Abstiegsalarm in Mülheim, Deggendorf, Bad Mergentheim und München (11. Spieltag)
Ob Matthias Blübaum seinem Europameistertitel von 2022 in diesem Jahr einen zweiten hinzufügt? Oder schafft es mit Frederik Svane ein anderer Bundesligaspieler, beim elfrundigen Schachmarathon in Rumänien mit mehr als 100 Großmeistern zu triumphieren? Diese Frage werden sich auch die Verantwortlichen der SF Deizisau und des Hamburger SK stellen, aber unmittelbar beschäftigte sie erst einmal das Problem, dass Blübaum, Svane und diverse andere Großmeister von internationaler Spitzenklasse aussetzen mussten. Wegen der Terminkollision mit der EM fehlt an diesem Bundesligawochenende fast jedem Team die eine oder andere Stammkraft.

Nach seinen Sieg über David Howell stellte sich Vincent Keymer auf der Millerntor-Tribüne zum Interview. | Foto: Roger Setchell/Sunset+Vine
Das Fernsehen ist trotzdem da. Die Zuschauersportart Schach arbeitet gerade daran, TV-Formate zu etablieren, um die nächste Popularisierungsstufe zu nehmen. Unter anderem auf Netflix wird noch in diesem Jahr viel Schach zu sehen sein, in der BBC ist gerade eine neue Schach-Show angelaufen, und das Unternehmen World Chess hat gerade die erste Folge seiner in dutzenden Ländern ausgestrahlten "World Chess Show" präsentiert. In der nächsten Folge wird es unter anderem um die Schachbundesliga und Schach in Deutschland gehen. Bilder und Stimmen dafür fängt ein aus London angereistes TV-Team der Produktionsfirma "Sunset+Vine" an diesem Wochenende auf St. Pauli ein.

Sportlich gab es am 11. Spieltag oben die zu erwartenden Kantersiege. Unten spitzt sich die Lage zu. Während Heimbach-Weis/Neuwied und Solingen sich mit einem Befreiungsschlag etwas Luft verschafft haben, schrillt in Mülheim, Deggendorf, Bad Mergentheim und München der Abstiegsalarm.
Schachbundesliga, der 11. Spieltag:
"Die spannende Frage lautet: Kommt auch Magnus Carlsen?", rätselte noch am Freitag die große deutsche Schachwebsite, als diese Frage längst beantwortet war. Am Mittwoch hatte die Hamburger Morgenpost die ernüchternde Nachricht verkündet: kein Carlsen, kein norwegisches I-Tüpfelchen auf dem Superheimspieltag von St. Pauli im Millerntor mit sieben beteiligten Mannschaften, da auch der Hamburger SK seine beiden Heimkämpfe in den Kiez verlegt hat. Trotz der Abwesenheit Carlsens bot die Morgenpost ihrer Leserschaft einen Live-Ticker zum Match des Aufsteigers gegen den Rekordmeister.

Die Gastgeber hatten sich vor heimischem Publikum gegen die an jedem Brett nominell favorisierten Baden-Badener viel vorgenommen, aber gerieten nach zwei schnellen Remisschlüssen früh ins Hintertreffen. Sergei Movsesians Angriff gegen Frank Sawatzki schlug durch, ohne dass Gegenspiel aufkam. Bennet Hagner setzte seine Bundesliga-Siegesserie gegen Martin Voigt fort, ein technischer Sieg, wie ihn auch Vincent Keymer am ersten Brett gegen David Howell zelebrierte. Damit stand es schon 4:1 für die Gäste, und Bennet Hagner hatte seine 100-prozentige Saisonbilanz auf 6/6 geschraubt.

Richard Rapport und Nikita Vitiugov brachen schließlich den Widerstand von Bartosz Socko und Igor Janik, sodass es ein Kantersieg wurde, der für beide Teams nicht allzu viel verändert hat. Baden-Baden hofft weiter, zumindest noch den Tabellenzweiten Viernheim einzuholen, und St. Pauli bleibt mit 8 Punkten auf Kurs in Sachen Klassenerhalt, ist aber noch nicht durch.
Das hat es beim Bundesliga-Dino und zwölffachen deutschen Meister Solingen lange nicht gegeben, womöglich noch nie: Von "Abstiegskampf" schrieb die Lokalpresse in den Tagen vor dem Match gegen Bad Mergentheim, vom "Vier-Punkte-Spiel" und dem damit verbunden "Druck", unter dem die mit 7 Punkten am Rande der Abstiegszonge krebsende Truppe stehe. Selbiges galt für die mit 6 Punkten dastehenden Bad Mergentheimer - mit dem Unterschied, dass sie von Anfang an um den Klassenerhalt kämpften, während die Solinger es kaum gewohnt sind, nicht im oberen Tabellendrittel mitzumischen.

Ur-Solinger Jan Smeets lähmte der Druck nicht. Nach drei Remisen zum Auftakt des Matches hatte er sich eingangs der Zeitnotphase mit den schwarzen Steinen schon einen Mehrbauern und ein vorteilhaftes Endspiel erkämpft, als auf der anderen Seite des Brettes Petr Neumann plötzlich einem Kurzschluss erlag - 2,5:1,5 für Solingen. Aber der Sieg war noch lange nicht eingetütet. Kritisch war die Partie am fünften Brett, an dem Viatcheslav Ikonnikov mit den schwarzen Steinen Anstalten machte, den rund 150 Elo stärkeren Loek van Wely zu überfahren. Das wäre, im Nachhinein betrachtet, das 4:4 gewesen. Aber mit der Routine eines ehemaligen Weltklassespielers stellte van Wely fortwährend Probleme, hielt seine Ruine zusammen und siegte schließlich sogar.
"Wir haben noch eine Chance drinzubleiben", sagte der Mülheimer Jugendwart Philipp Limbourg im Stream des SC Viernheim. Die dafür nötigen Punkte wird Mülheim-Nord gegen andere Teams holen müssen. Die Niederlage zeichnete sich früh ab, und dieser Eindruck verstärkte sich noch, als sich in der dritten und vierten Stunde auf Mülheimer Seite zu den schlechten Stellungen an fast allen Brettern Zeitnot gesellte.

Unregelmäßigkeiten gab es zwei. Wer das Œuvre der Schachfreunde Beerdsen und Korobov kennt, konnte sich darauf einrichten, am dritten Brett im Duell dieser beiden ein wildes Hauen und Stechen zu sehen. Stattdessen: die erste beendete Partie, schiedlich-friedlich früh remis. Viernheims Topscorer Aravindh (6,5/8, Performance >2800) hätte sich am zweiten Brett gegen Liam Vrolijk beinahe seine erste Niederlage in der Schachbundesliga eingehandelt. Mit Turm, Figur und zwei Minusbauern gegen die Dame war Aravindhs Angriff und damit die Kompensation schon fast versiegt, als dem Niederländer ein arger Fehlgriff unterlief, der die Partie unmittelbar zugunsten des Viernheimers drehte.

Aus Publikumssicht war der Held des Spieltags in Mülheim einer, der nicht mitspielte. IT- und Daten-Fachmann Majed Al Helaoy vom SC Viernheim sprang aus der Ferne ein, als sich die Liveübertragung aus Mülheim partout nicht einrichten lassen wollte. Von Viernheims Teamchef Stefan Martin alarmiert, klinkte er sich per Fernwartung in den Mülheimer Übertragungscomputer ein und sorgte dafür, dass nach knapp drei Stunden Spielzeit die Partien doch noch auf den gängigen Schachplattformen erschienen.


Zweite Bundesliga hat sie gespielt, Frauenbundesliga sowieso, und durch die Landesliga Süd fräst sie sich in dieser Saison mit bislang 4 Punkten aus 4 Partien. Nun feierte Svenja Butenandt ihre Premiere in der Schachbundesliga. An ihr lag es nicht, dass der FC Bayern im Nord-Süd-Duell gegen den Hamburger SK unter die Räder kam:

Nach Gewinnpartien unterlagen die Bayern 1:4. Der einzige Sieg gelang Michael Fedorovsky, der erst hübsch kombinierte und dann alle Schwindelversuche von Nikolas Lubbe parierte:

Kombinieren konnten die Hamburger auch, Julian Kramer zum Beispiel, aber vor allem Gabor Papp:

Dazu kamen zwei eher technische Siege von Jonas Lampert und Leonardo Costa, der gegen Linus Johansson ein schon nach 26 Zügen entstandenes etwas besseres Turmendspiel so lange knetete, bis der volle Punkt unter Dach und Fach war.
In München wird die Lage nun langsam brenzlig. Vier Spieltage vor Schluss trennen die Mannschaft zwei Brettpunkte von den Abstiegsrängen.
Nachdem die Schachfreunde Nepomniachtchi und Michalik zügig das Brett abgeräumt und Frieden geschlossen hatten, ging es Schlag auf Schlag. Erst nutzte Raunak Sadhwani einen taktischen Fehler aus, der dem unter Druck stehenden Raj Tischbierek unterlaufen war, ...

... dann erhöhten Jan Gustafsson, Anish Giri, Victor Bologan, Andrey Esipenko und schließlich auch Arjun Erigaisi gegen den lange prächtig mitspielenden Jergus Pechac. Erigaisi trennen in der Weltrangliste (live) vor dem Sonntagsspieltag noch 0,3 Punkte von Fabiano Caruana auf dem vierten Platz.
Den zweiten halben Punkt ließ ein Düsseldorfer, der lange ein Hundertprozentiger gewesen war. Aber nach seinem 8/8-Saisonstart ließ Javokhir Sindarov in einer wilden Partie gegen Maximilian Neef nun das zweite Remis zu, was er mit einem Tränchen auf Twitter kommentierte.
Die Dresdner mit 11 Punkten können die Niederlage verschmerzen, und die Düsseldorfer marschieren weiter Richtung Titel.

Ohne die bei der Europameisterschaft weilenden Nationalspieler Matthias Blübaum und Dmitrij Kollars - eine Hypothek für Deizisau? Als beim Stande von 2,5:2,5 Zahar Efimenko seine positionelle Demonstration mit einem vollen Punkt krönte, hätte es das eigentlich gewesen sein sollen für die Bremer. Zwei Partien am siebten und achten Brett liefen noch. In der einen drückte Deizisaus Routinier Michal Krasenkow auf den vollen Punkt, in der anderen Bremens Youngster Jari Reuker.

Während Krasenkow seinen vollen Punkt machte, entglitt Reuker sein Vorteil. Wahrscheinlich unter dem Eindruck des ersten Versehens unterlief ihm ein weiteres, und es triumphierte nicht der Bremer Nachwuchsmann, sondern mit Zdenko Kozul ein weiteres Mitglied der Deizisauer Seniorentruppe (die Schachfreunde Banusz, Moussard und Gupta mögen diese Formulierung verzeihen).

Einen zweigeteilten Mannschaftskampf sah das Publikum beim Duell zwischen Heimbach-Weis/Neuwied: erst beendeten die oberen vier Bretter ihre Partien, dann die unteren vier. 2,5:1,5 führte Kirchweyhe nach den ersten vier Partien. Neben drei Punkteiteilungen hatte sich am ersten Brett Martin Krämer beim Qualitätsopfer gegen Ante Brkic arg verschätzt. Nicht er, sondern Brkic bekam zur Mehrqualität auch noch die Kompensation und verwertete den Vorteil sicher.
Aber an den unteren vier Brettern drehte Heimbach den Kampf. Jorge Viterbo Ferreira nahm dankbar die Einladung an, den gegnerischen Königsflügel aufzuweichen und unter Beschuss zu nehmen, Martin Neugebauer verdichtete nach und nach seinen Positionsvorteil, und Sven Tica nutzte das überambitionierte Vorgehen seiner Gegnerin am Damenflügel aus.
Die Kirchweyher hatten den Ausfall dreier Spieler gegenüber der Lokalpresse als "Kahlschlag" eingeordnet. Das war etwas gemein etwa gegenüber Klaudia Kulon (Elo 2401) bei ihrer Bundesligapremiere, aber auch nicht ganz falsch. Die meistens sehr ausgeglichene Kirchweyher Mannschaft bekam diesmal zu spüren, dass an den unteren Brettern die 2500er fehlten. Der SC Heimbach-Weis/Neuwied hingegen hat einen Riesenschritt Richtung Klassenerhalt gemacht.
