Drama in Baden-Baden, Carlsen-Festspiele in Hamburg (5. Spieltag)
Hoffentlich findet Bogdan-Daniel Deac in der Nacht vor dem nächsten Match vor lauter Frust in den Schlaf. Im Spitzenspiel seiner Baden-Badener Tabellenführer gegen den Deutschen Meister Viernheim standen die Zeichen auf 4:4, ein Ergebnis, das Baden-Baden kaum geschmerzt und Viernheim aus dem Meisterschaftsrennen gekegelt hätte.
Deac musste nichts weiter tun, als sein nicht triviales, aber doch klar gewonnenes Turmendspiel zu gewinnen. Nach fast sechs Stunden im 80. Zug überstürzte er die Dinge. Der Rumäne übersah einen Patt-Trick, mit dem sich Anton Korobov rettete. Viernheim gewann 4,5:3,5. Damit bewahren die Südhessen im Meisterschafts-Dreikampf mit Düsseldorf (6:2 über Werder Bremen) und Baden-Baden ihre Chance auf die Titelverteidigung.
Am Sonntag bekommt es Viernheim zum zweiten Mal in Folge mit dem Tabellenführer zu tun, diesmal mit den SF Deizisau, die nach einem 4,5:3,5 über Heimbach-Weis/Neuwied zumindest für eine Nacht den Bundesligagipfel erklommen haben.
Ein bestens aufgelegter Magnus Carlsen zeigt Fiona Steil-Antoni und dem Publikum des St.-Pauli-Schachstreams seinen glatten Schwarzsieg über Max Warmerdam. | Foto: FC St. Pauli
Das sportliche Spitzenmatch zwischen zwei Teams mit 2700-Schnitt stand, zumindest nach Publikumsinteresse, im Schatten des ersten Akts der Carlsen-Festspiele zu St. Pauli. Angeführt von der Nummer eins der Welt, gelang den Hamburgern gegen die SG Solingen der umjubelte erste Saisonsieg.
Mehr als zwei Stunden vor Anpfiff (des Schach-Matches) hatte sich vor dem Brahms-Kontor unweit des Millerntors schon der erste Autogrammsammler eingefunden. Er sollte nicht lange allein bleiben, berichtet Alexandra Leib, Pressesprecherin der Schachsparte des FC St. Pauli. Zahlreiche Schach- und Carlsen-Fans hätten sich vor dem Spiellokal versammelt, einige in der Hoffnung, „einfach so vorbeikommen“ zu können.
Das ging diesmal aufgrund der beengten Räumlichkeiten nicht. Da auf St. Pauli bei Terminüberschneidungen nicht die Bundesligaschachspieler, sondern die Fußballer Zugriff aufs Stadion haben, waren die Denksportler in das altehrwürdige Handelsgebäude ausgewichen. Aufgrund des Medienandrangs und des Interesses aus der eigenen Abteilung hat der FC St. Pauli für Samstag und Sonntag jeweils nur 20 Karten ausgegeben. „Wir hätten mehr als 1000 verkaufen können“, sagt Leib.
Der frischvermählte Fußballfan Magnus Carlsen, am Vorabend mit Gattin Ella Victoria in Fuhlsbüttel gelandet, legte vor seiner ersten Turnierpartie als Ehemann bei St.-Pauli-Präsident Oke Göttlich ein Geständnis ab. Er habe ja seit Jahren dieses St.-Pauli-Trikot im Schrank, aber leider vergessen, es mitzubringen. Göttlich überreichte ihm als Kompensation für das fehlende Trikot eine Totenkopftasche mit St.-Pauli-Utensilien.
Der Exweltmeister im klassischen und Halbweltmeister im Blitzschach stellte bald fest, dass die Dresscode-Regeln auf St. Pauli einfacher sind als jene bei der FIDE: Obenrum ist der Pauli-Hoodie erwünscht, untenrum egal, verboten ist nichts außer natürlich HSV-Trikots. Tags darauf (pünktlich!) erschien Carlsen in Jeans und Hoodie am Brett und zog – nicht.
Mit 1.c4 hatte auf Solinger Seite Max Warmerdam das Gefecht am ersten Brett eröffnet, umlagert von Kameraleuten, die Magnus Carlsens ersten Zug für den FC St. Pauli festhalten wollten. Aber vor den Augen von Pauli-Sponsor Jan Henric Buettner erweckte der Norweger den Eindruck, als sitze er vor einer Freestyle-Grundstellung, die erst einmal studiert werden will. Mehr als zehn Minuten vergingen, bevor Carlsen sich für 1…e5 entschied.
Dass Carlsen jetzt auf St. Pauli Bundesliga spielt, ist schon eine Überraschung, aber die eigentliche Personal-Sensation war am sechsten Brett zu bewundern. Dort saß Carlsens Weltmeister-Coach Peter Heine Nielsen, der sich als Spieler eigentlich im Ruhestand wähnt. „Ich bin schockiert, dass Peter tatsächlich spielt“, erklärte Carlsen im Stream – und lobte die feinen Nadelstiche, mit denen sein ehemaliger Trainer Alexander Krastev zusetzte.
Tatsächlich waren es der Norweger und der Däne, die für die Gastgeber die Zeichen bald auf Sieg stellten. Carlsens Eröffnungszockerei gegen den angehenden 2700er Warmerdam führte ebenso zum vollen Punkt wie die umsichtige Partieanlage Nielsens. Mit zwei frühen Schwarzsiegen im Rücken ließ der Aufsteiger nichts mehr anbrennen. 5,5:2,5 stand es am Schluss. Die Niederlage von David Howell gegen Erwin l’Ami war leicht verschmerzbar. Zudem freuten sich die einzigen beiden eingesetzten Stammkräfte aus der Aufstiegsmannschaft, Bartosz Socko und Aljoscha Feuerstack, über 1,5 Punkte, ein ganzer von Socko, ein halber von Feuerstack.
Am Sonntag geht es für St. Pauli gegen Meisterschaftsfavorit Düsseldorfer SK, eine nochmal deutlich größere Hausnummer als das zur erweiterten Ligaspitze zählende Solinger Team. „Wir sind positiv gestimmt“, sagt Leib. „Ich erwarte Wei Yi als Gegner“, erklärte Carlsen, der sich auf eine Auseinandersetzung mit einem Weltklassespieler freut. „Das wird ein guter Test sein.“
Wesentlich knapper ging es in Baden-Baden zu, wo sich die Gastgeber anlässlich des Spitzenmatches über zahlreiche Besucher freuten. Grenke-Chef Sebastian Hirsch und Baden-Badens Bürgermeister Dietmar Späth sahen einen zurückhaltenden Beginn mit fünf Punkteteilungen an den ersten fünf Brettern, von denen zumindest zwei nicht ausgekämpft waren.
Indirekt anwesend war jemand, der am Brett fehlte. Viernheims Nummer eins Hikaru Nakamura, den einzufliegen den Gästen nicht gelungen war, verfolgte und kommentierte dieses und das St.-Pauli-Match von zu Hause aus vor großem Publikum, einer von rekordverdächtigen drei Bundesligastreams am Samstag neben dem aus St. Pauli und dem aus Baden-Baden.
Nach den fünf raschen Punkteteilungen zum Auftakt sollte das Match für mehr als zwei Stunden auf des Messer Schneide stehen. „Zwischen 3,5 und 4,5 Punkten ist alles möglich“, meldete zwischenzeitlich Viernheims Schatzmeister und Mannschaftsbetreuer Stefan Spiegel vom Ort des Geschehens, wo die drei noch laufenden Partien 67, 97 und 99 Züge lang dauern sollten.
In einem dynamischen Endspiel am sechsten Brett setzte Aravindh seinen Gegner Peter Svidler unter anhaltenden Druck. Aber der dreifache WM-Kandidat und achtfache russische Meister hielt dagegen und machte keine Anstalten einzubrechen. Am siebten Brett verwaltete David Anton gegen Exweltmeister Rustam Kasimdzhanov ein Doppelturmendspiel mit Mehr- und Freibauern, in dem nicht klar war, ob der Spanier die Verteidigungslinie des Usbeken auf der sechsten Reihe durchbrechen kann. Am achten Brett hatte sich Anton Korobov gegen Bogdan-Daniel Deac ein Schwerfigurenendspiel mit erst einem, dann zwei Bauern weniger eingehandelt, das zusehends kritischer für den Viernheimer wurde.
Mit etwas gegnerischer Hilfe eröffnete David Anton den Reigen, eroberte die sechste Reihe erst mit einem Turm, ließ seinen Freibauern folgen, und bald war Kasimdzhanovs Stellung nicht mehr zu halten. Da beim Stande von nun 3,5:2,5 für Viernheim abzusehen war, dass sich Korobov nicht retten kann und es bald 3,5:3,5 steht, schien es an der Begegnung Svidler vs. Aravindh zu hängen. Und in der rette sich Svidler mit heroischer Verteidigung gegen die unermüdlichen Versuche seines Gegenübers.
Also 4:4? Nein, es folgte noch Deacs Fehler im 80.Zug, der Korobov die überraschende Rettung in einem bis dahin klar verlorenen Endspiel erlaubte. Die beiden spielten, bis im 99. Zug Korobovs König pattgesetzt war.
Für Baden-Baden ist trotz des 3,5:4,5 nichts verloren, aber die Mannschaft hat jetzt kein Punktepolster mehr. Im Duell gegen Düsseldorf (am 1. Februar in Düsseldorf) wird Baden-Baden in etwa in dem Maße unter Siegzwang stehen, wie Viernheim in Baden-Baden unter Siegzwang stand.
Viernheims Kapitän Stefan Martin, erfreut und erleichtert, hat im Vergleich zweier ebenbürtiger Mannschaft einen Triumph des „Viernheimer Teamgeists“ gesehen. Martin glaubt, die Baden-Badener hätten am Anfang nicht in jeder Partie auf das Maximum gedrückt, und das habe sich am Ende gerächt. Anlass, sich zurückzulehnen, sieht Martin gleichwohl nicht. Auch am Sonntag gegen Tabellenführer Deizisau erwartet er ein schwieriges, umkämpftes Match.
Alle Ergebnisse der fünften Runde:
Hamburger SK – SV Mülheim Nord 6:2
- GM Nils Grandelius (2639) ½ : ½ GM Daniel Fridman (2576)
- GM Frederik Svane (2664) 1 : 0 GM Thomas Beerdsen (2501)
- GM Rasmus Svane (2624) ½ : ½ IM Valentin Buckels (2441)
- GM Leon Luke Mendonca (2639) 1 : 0 IM Patrick Zelbel (2490)
- GM Niclas Huschenbeth (2596) ½ : ½ GM Michael Feygin (2451)
- GM Jonas Lampert (2526) 1 : 0 GM Daniel Hausrath (2455)
- IM Leonardo Costa (2494) ½ : ½ IM Dr. Volkmar Dinstuhl (2379)
- IM Julian Kramer (2480) 1 : 0 FM Sasa Albers (2249)
FC St. Pauli – SG Solingen 5½:2½
- GM Magnus Carlsen (2831) 1 : 0 GM Max Warmerdam (2646)
- GM David W. L. Howell (2673) 0 : 1 GM Erwin L'Ami (2614)
- GM Johan-Sebastian Christiansen (2664) ½ : ½ GM Markus Ragger (2580)
- GM Jonas Bjerre (2640) 1 : 0 GM Mads Andersen (2594)
- GM Marc Andria Maurizzi (2579) ½ : ½ GM Loek van Wely (2614)
- GM Bartosz Socko (2553) 1 : 0 GM Surya Shekhar Ganguly (2578)
- GM Peter Heine Nielsen (2618) 1 : 0 IM Alexander Krastev (2431)
- IM Aljoscha Feuerstack (2458) ½ : ½ GM Alexander Naumann (2476)
SV Werder Bremen – Düsseldorfer SK 2:6
- GM Velimir Ivic (2620) 0 : 1 GM Yi Wei (2751)
- GM Luke J. McShane (2609) ½ : ½ GM Anish Giri (2731)
- GM Alexander Areshchenko (2606) 0 : 1 GM Javokhir Sindarov (2692)
- GM Zahar Efimenko (2563) 0 : 1 GM Jorden Van Foreest (2680)
- GM Lucas van Foreest (2526) ½ : ½ GM Andrey Esipenko (2699)
- GM Zbynek Hracek (2539) ½ : ½ GM Raunak Sadhwani (2675)
- GM Vlastimil Babula (2497) ½ : ½ GM Jan Gustafsson (2598)
- IM Nikolas Wachinger (2441) 0 : 1 GM Victor Bologan (2603)
OSG Baden-Baden – SC Viernheim 3½:4½
- GM Alireza Firouzja (2763) ½ : ½ GM Nodirbek Abdusattorov (2768)
- GM Levon Aronian (2747) ½ : ½ GM Jan-Krzysztof Duda (2740)
- GM Vincent Keymer (2733) ½ : ½ GM Shakhriyar Mamedyarov (2732)
- GM Maxime Vachier-Lagrave (2733) ½ : ½ GM Parham Maghsoodloo (2674)
- GM Richard Rapport (2721) ½ : ½ GM Alexey Sarana (2677)
- GM Peter Svidler (2698) ½ : ½ GM Chithambaram Aravindh (2726)
- GM Rustam Kasimdzhanov (2683) 0 : 1 GM David Anton Guijarro (2664)
- GM Bogdan-Daniel Deac (2696) ½ : ½ GM Anton Korobov (2627)
Schachfreunde Deizisau – SC Heimbach-Weis-Neuwied 4½:3½
- GM Dmitrij Kollars (2642) ½ : ½ GM Leon Livaic (2557)
- GM Matthias Blübaum (2643) ½ : ½ GM Martin Krämer (2579)
- GM Daniel Dardha (2645) 1 : 0 GM Lorenzo Lodici (2574)
- GM Benjamin Gledura (2661) 1 : 0 GM Grzegorz Nasuta (2497)
- GM Gata Kamsky (2611) 0 : 1 GM Stepan Zilka (2525)
- GM Jules Moussard (2599) ½ : ½ GM Jorge Joao Viterbo Ferreira (2524)
- GM Rustem Dautov (2564) ½ : ½ IM Jakub Kosakowski (2539)
- GM Andreas Heimann (2547) ½ : ½ IM Lukas Winterberg (2411)
SF Bad Mergentheim – FC Bayern München 2½:5½
- GM Valeriy Kazakovskiy (2562) 0 : 1 GM Seyed Mohammad Amin Tabatabaei (2668)
- GM Paulius Pultinevicius (2579) 0 : 1 GM Vladimir Fedoseev (2717)
- GM Tomas Laurusas (2580) 0 : 1 GM Jaime Santos Latasa (2632)
- IM Fy Antenaina Rakotomaharo (2430) ½ : ½ GM Valentin Dragnev (2563)
- IM Timothe Razafindratsima (2476) ½ : ½ GM Alvar Alonso Rosell (2544)
- GM Vyacheslav Ikonnikov (2436) ½ : ½ IM Martin Lokander (2468)
- GM Petr Neuman (2434) ½ : ½ GM Joseph Girel (2490)
- IM Alexander Gasthofer (2387) ½ : ½ GM Klaus Bischoff (2433)
USV TU Dresden – SV Deggendorf 4:4
- GM Mateusz Bartel (2625) ½ : ½ GM Sunilduth Lyna Narayanan (2638)
- GM Jergus Pechac (2599) ½ : ½ GM Aleksandar Indjic (2647)
- GM Roven Vogel (2538) 1 : 0 GM Gupta Sankalp (2550)
- GM Liviu-Dieter Nisipeanu (2592) ½ : ½ GM Martin Petrov (2550)
- GM Peter Michalik (2558) ½ : ½ GM Boban Bogosavljevic (2475)
- IM Maximilian Neef (2469) ½ : ½ GM Aleksander Delchev (2465)
- GM Uwe Bönsch (2464) ½ : ½ GM Dusan Popovic (2495)
- GM Raj Tischbierek (2432) 0 : 1 GM Nikola Sedlak (2456)
Fotos vom Spieltag: