"Meine Mutter zwang mich unter Androhung von Stubenarrest in den Schachverein" - Interview mit GM Matthias Wahls (Teil 1)
GM Matthias Wahls war in den 80er und 90er Jahren einer der stärksten deutschen Spieler und mit 21 Jahren der zum damaligen Zeitpunkt jüngste deutsche Großmeister aller Zeiten. Ende der 90er Jahre zog er sich jedoch vom Schachsport zurück und wandte sich lukrativeren Geschäftsfeldern zu: 2005 war er Mitbegründer einer erfolgreichen Pokerplattform. Heute lebt er in Gibraltar und denkt über eine Rückkehr ans Schachbrett nach.
Lesen Sie im 1. Teil unserer Interviews, wie GM Wahls in seinen ersten Schachklub "gezwungen" wurde, warum er sich für eine Profilaufbahn entschied und warum er diese nach rund 20 Jahren wieder aufgab.
SBL: Herr Wahls, zunächst einmal herzlichen Dank, dass Sie sich zu diesem Interview bereit erklärt haben. Wo befinden Sie sich im Augenblick?
Wahls: Ich befinde mich gerade in Gibraltar, wo ich seit sieben Jahren wohne.
SBL: Haben Sie Gibraltar als neue Heimat gewählt oder können Sie sich vorstellen, eines Tages wieder nach Deutschland zurückzukehren?
Wahls: Gibraltar gefällt mir sehr gut, vor allem wegen des Klimas. Ich leide an zu niedrigem Blutdruck und friere daher leicht. Auch ist meine Stimmung bei Sonnenschein deutlich besser. Trotzdem kann ich mir schon vorstellen, irgendwann nach Deutschland zurückzukehren. Heimat ist eben Heimat.
SBL: Sie waren in den 80er und 90er Jahren einer der führenden deutschen Großmeister. Wie sind Sie überhaupt zum Schachspiel gekommen?
Wahls: Meine Mutter zwang mich mit neun Jahren unter Androhung von Stubenarrest in den Schachverein. Zwar fand ich die Idee interessant, aber ich hatte etwas Angst vor dem Unbekannten. Damals musste sie so rabiat vorgehen, da sie alleinerziehend und kurz davor war, eine Arbeitsstelle anzutreten. Dieser Dienstag vor 39 Jahren war für sie dir letzte Möglichkeit, mich dorthin zu begleiten. Kinder müssen halt manchmal zu ihrem Glück gezwungen werden.
SBL: Wann fassten Sie den Entschluss, Schachprofi zu werden? Ist Ihnen diese Entscheidung damals leichtgefallen oder war es ein „Kampf“ unter mehreren Optionen?
Wahls: Ich wusste bereits mit circa 16 Jahren, dass Schach meine Bestimmung werden sollte. Zwar war ich kein schlechter Schüler, aber die Schulzeit war eher Dienst nach Vorschrift. Mein Herz brannte nur für Schach.
SBL: Mit 21 Jahren wurden Sie 1989 der bis dato jüngste deutsche Schachgroßmeister. Welche Ziele hatten Sie zu jenem Zeitpunkt?
Wahls: Eine sehr gute Frage. In der Tat war die Luft nach dem Erreichen des GM-Titels erst einmal raus. Welche Ziele hätte ich mir setzen sollen? Weltmeister? Objektiv gab es natürlich schon eine ganze Reihe ehrenvoller Ziele. Deutscher Meister, Etablierung in den Top 50, Perfektionierung des eigenen Schachs, die Erschaffung von Kunstwerken.....Mein Problem war jedoch, dass mir damals ein Mentor fehlte, der mir eine Richtung hätte vorgeben können. Mir fehlte sowohl ein starker Trainingspartner (damals war ich in Hamburg etwas isoliert) als auch ein Motivator. Schließlich ging ich den Weg des geringsten Widerstands. Da ich meine Jugendzeit voll dem Schach gewidmet hatte, holte ich nun das nach, was ich damals entbehrte. Es war meine wilde Zeit. Ich hatte Flausen im Kopf.
SBL: Was waren Ihre größten Erfolge am Schachbrett und welche Partie würden Sie als Ihre bisher beste bezeichnen?
Wahls: Meine beste Elo-Performance ereichte ich 1996 beim HSK-GM-Turnier. Ich glaube es waren so gegen 2730 Elo-Punkte. Das war damals deutlich mehr wert als heute. Die zweitbeste Leistung erzielte ich 1991 beim SKA GM-Turnier, ebenfalls in Hamburg und ebenfalls über 2700 Elo.
Es fällt mir schwer, mich für eine beste Partie zu entscheiden. Mein Stil ist eher nüchtern und pragmatisch. Wäre ich ein Angriffsspieler, hätte ich einen großen Fundus an Wahlmöglichkeiten. Aber dem ist nicht so. Vielleicht aus diesem Grunde hielt ich meine Angriffspartie gegen Constantin Ionescu von der Olympiade 1990 in Novi Sad immer für eine meiner besten Leistungen. Als ich diese jedoch kürzlich für meinen Blog analysierte, hagelte es gleich an mehreren Stellen Kritik von Stockfish. Diese Art der Entmystifizierung betrifft allerdings zahlreiche ehemalige Glanzpartien. Ich bin da in guter Gesellschaft. Für solche Funde habe ich mir übrigens extra eine separate Datenbank in ChessBase angelegt.
SBL: 1998 beendeten Sie dann, für viele überraschend, ihre professionelle Schachlaufbahn. Was waren ihre Gründe hierfür?
Wahls: 1994 erhielt ich einen zweiten Motivationsschub. Ich wollte es noch einmal wissen und die magische Hürde von 2600 durchbrechen, was damals die Entrittskarte in den Klub der Supergroßmeister war. Ich versprach mir davon auch Einladungen zu interessanten Turnieren und eine Verbesserung meiner finanziellen Situation. Meine Arbeit sollte sich lohnen. 1994 ezielte ich den 2. Platz bei den Deutschen Meisterschaften, 1995 den 3, und 1996 und 1997 konnte ich mir jeweils den Titel holen. 1996 gelang mir schließlich auch der Durchbruch durch die 2600- Schallmauer.
Nun ging ich also geduldig jeden Morgen zum Briefkasten, aber die die erhoffte Fülle an Einladungen blieb aus. 1997 bekam ich als amtierender Deutscher Meister eine Einladung aus Dortmund. Meine Anfrage nach einem Startgeld wurde allerdings abschlägig behandelt. Nun war die Lage so: Dortmund war damals stark besetzt und ich wäre in der Startrangfolge, vor dem Local Hero, am vorletzten Platz erschienen. Preisgelder gab es allerdings nur für die obere Hälfte. Meine Chancen auf einen Preis waren also denkbar schlecht. Das Turnier hätte knapp 14 Tage gedauert und meine Vorbereitung ebenso lang. Ansonsten wird man bei solch einer Veranstaltung gnadenlos verdroschen. Unterm Strich hätte der amtierende Deutsche Meister also einen ganzen Monat lang umsonst arbeiten sollen.... Dieser lehnte daher ab.
Klar, Schach hatte mir damals immens viel Spaß gemacht, und Dortmund wäre eine Herausforderung gewesen, aber als Profi muss man den Anspruch haben, damit Geld zu verdienen. Als junger Mann und Einzelkämpfer wäre das damals natürlich grundsätzlich möglich gewesen. Ich hätte halt mehr Open spielen müssen. Dazu Schachtraining geben und hin und wieder mal ein Simultan einstreuen. Aber ich wollte damals eine Familie gründen und kam zu dem Schluss, dass der Schachmarkt meine Arbeit dafür nicht angemessen bezahlen würde. Deshalb machte ich mich auf die Suche nach Alternativen.
SBL: Nach dem Fall des „Eisernen Vorhangs“ hatten sich die Bedingungen für westliche Profis dramatisch verschlechtert. Glauben Sie, dass sich das heute wieder gebessert hat? Würden Sie Ihren Kindern zu einer Laufbahn als Schachprofi raten, wenn sie das Talent dazu hätten?
Wahls: Ich kann die heutigen Bedingungen nicht gut genug einschätzen, dafür bin ich noch nicht lange genug wieder am Ball. Möglicherweise haben sie sich verbessert. Dafür gibt es einige Indizien. Die stärksten Schachprogramme besitzen eine Elo-Zahl von über 3300. Trotzdem wird dem „Gepatze“ der Weltspitze 600 Punkte darunter viel Beachtung geschenkt. Man kann somit feststellen, dass die Bedrohung durch die Maschinen nur zum Schein bestanden hat.
Als ich mir letztens die Mannschaftsaufstellungen der Bundesliga anschaute, war ich erstaunt über die Dichte starker Spieler. Auch sah ich viele Mannschaften in Vereinstrikots. Die Bundesliga scheint viel professioneller geworden zu sein als bei meinem Austieg. Das sieht man auch schon am Web-Auftritt.
Auf der anderen Seite vermute ich, dass heutzutage auch die Konkurenz größer sein dürfte als früher. Das würde ja den Marktgesetzten entsprechen. Und mit dem Talent ist es so eine Sache. Man weiß im Vorfeld nie genau, bis wohin es reicht. Ein talentierter Jugendlicher wird es auf jeden Fall zum IM bringen. Aber es gibt keine Garantie dafür, dass er weiter kommt. Und was hätte er davon, als schwacher GM zu enden? Natürlich kommt es auch auf die Begleitumstände an. Stammt jemand aus einer gut situierten Familie und hat die volle Unterstützung des Vaters, so könnte er diesen Schritt wagen. Ich selbst hatte damals keinerlei finanziellen Rückhalt. Es war ein Wagnis, was mich meine unbändige Liebe zum Schach hat eingehen lassen. Zwar hat es funktioniert, aber das konnte man vorher nicht wissen. Es war auf jeden Fall riskant.
SBL: Welche Aktivitäten verfolgten Sie nach dem Ende Ihrer Profilaufbahn?
Wahls: Nach meiner Beendigung als aktiver Spieler hatte ich mich zunächst an einem Internetprojekt beteiligt. Dabei handelte es sich um ein Immobilien-Portal. Als unsere Beteiligungsgesellschaft, eines der größten deutschen Internetunternehmen, im Zuge des Platzens der Dot.com-Blase in Schwierigkeiten geriet, konnte oder wollte sie unsere Aktionärsvereinbarung nicht mehr erfüllen. Wir befanden uns noch in der Marketing-Phase und mussten deshalb Konkurs anmelden.
Damals wollte ich nicht wieder zum Turnierschach zurückkehren, da sich die Gründe meines Ausscheidens nicht geändert hatten. Ich intensivierte daraufhin meine Trainer-Tätigkeit und fing an, Wochenendseminare zu geben. Irgendwann brachte mich mein Freund Jan Gustafsson auf Poker. Nach anfänglicher Skepsis ließ ich mich davon überzeugen, dass es sich dabei nicht um ein Glücksspiel handelt, sondern um eine anspruchsvolle Disziplin, in der Strategie, Psychologie, Wahrscheinlichkeitsrechnung und Spieltheorie eine bedeutende Rolle spielen.