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"Die Sache professionalisieren": Stefan Martin, 1. Vorsitzender des SC Viernheim

Von der sportlichen Ambition des Meisterschaftskandidaten SC Viernheim profitiere der ganze Verein, sagt Clubchef Stefan Martin im Interview mit schachbundesliga.de. Seitdem der südhessische Club im schachlichen Oberhaus oben mitspielt, öffnen sich ihm Türen, die zuvor geschlossen waren. Und wo sonst haben die Mitglieder die Möglichkeit, sich beim Vereinsabend mit Weltklassegroßmeistern zu messen? In der kommenden Serie wollen die Viernheimer nach Möglichkeit mehr, als "nur" oben mitspielen. Mit der Verpflichtung des Weltranglistenzweiten Hikaru Nakamura hat der Verein aus der 34.000-Einwohner-Stadt jetzt ein Signal ausgesandt, das sogar international wahrgenommen worden ist.

Ein Interview mit dem 1. Vorsitzenden Stefan Martin über Geschichte und Perspektive des Vereins, über Identität und Identifikation. Auch zur Zukunft der Schachbundesliga nach der Niederlage im Verfahren um die "Teilnahmevoraussetzungen" hat Martin einiges zu sagen. 

Hurra, das Saisonmagazin ist da! Vor Beginn der vergangenen Saison präsentiert Stefan Martin das Bundesligamagazin des Clubs. | Foto: Stefan Spiegel/SC Viernheim

Stefan, der SC Viernheim hatte schon in der vergangenen Saison einen meisterschaftstauglichen Kader. Während der Saison erzählte mir ein Vereinskollege von Dir etwas, das mich erstaunt hat. Er sagte: „Wir wollen gar nicht Meister werden.“

Stimmt. Alle Spielerinnen und Spieler im Kader sollten Einsätze bekommen, das war vor der Saison so abgesprochen. Als es am Ende auf einen Zweikampf zwischen uns und Baden-Baden um die Meisterschaft hinauslief, als wir absehen konnten, dass es gegen Hamburg und Bremen knapp wird, galt für uns weiterhin die Absprache vom Saisonbeginn. Darüber gab es intern gar keine Diskussion. Wenn wir unseren Spielern etwas zusagen, können sie sich darauf verlassen. Verlässlichkeit geht vor sportlichem Erfolg.

Sind die Prioritäten und Absprachen in der kommenden Saison andere?

Seit langem ist mit dem Sponsor und allen Beteiligten geklärt, dass 2023/24 das Ziel „Sportlicher Erfolg“ eine höhere Rolle spielt als in der vergangenen Serie.

Der Viernheimer Kader besteht aus einer ganzen Reihe von Ukrainern. Welche Rolle spielt das?

Eine gewaltige. Wir haben 2022/23 zum Beispiel jemanden eingesetzt, der ewig nicht in einem Bett geschlafen hatte. Der kam von der Front im Donbass…

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…Igor Kovalenko.

Ja. Auch die anderen Ukrainer erleben eine extreme Situation. Manche mussten ihren Lebensmittelpunkt verändern, dazu Tag für Tag die schrecklichen Nachrichten aus der Heimat. Einer unserer Spieler hat beide Eltern verloren. Ein anderer seine Wohnung.

Ihr habt früh und deutlicher als die meisten anderen Stellung bezogen.

Wir haben die Resolution der Bundesliga gegen den Krieg maßgeblich mit vorangetrieben. Beim Saisonfinale haben wir den Raum mit einer blau-gelben Stuhlreihe gestaltet. Wir hätten übrigens im Lauf der Saison auch gerne den Russen in unserem Kader eingesetzt, um ein Zeichen zu setzen, worum es uns geht: allein um Putins Angriffskrieg. Aber der Spieler hätte sich dafür eindeutig gegen den Krieg aussprechen müssen. Dazu war er nicht bereit, und dann hat er eben konsequenterweise nicht gespielt. Andere Vereine haben das weniger konsequent gehandhabt. 

Mit der Verpflichtung von Hikaru Nakamura habt Ihr schon vor Beginn der neuen Saison für Schlagzeilen gesorgt. Wer hat während der Viernheimer Personalplanung als Erster „Nakamura“ gesagt?

(Lacht) Wir schauen ja schon länger auf die Weltrangliste, und wer sich die anschaut, der sieht, dass nahezu jeder aus den Top 50 in der Bundesliga oder Zweiten Bundesliga spielt. Das gilt umso mehr, seitdem Düsseldorf jetzt eine ganze Reihe der wenigen Leute verpflichtet hat, die noch auf dem Markt waren. Insofern ist der Kreis von Kandidaten für eine Top-Verstärkung gar nicht so groß gewesen. Inzwischen gilt es für Spieler als eine Auszeichnung, bei einem Bundesliga-Topclub zu spielen.

Also war Nakamura derjenige, der noch frei war?

Das nun auch wieder nicht. Aber er war derjenige, der uns nicht nur mit enormer Spielstärke hilft. Seine mediale Sichtbarkeit ist für uns ein wichtiger Faktor. Für ihn spielt das Auftreten nach außen eine Rolle. Nakamura hat verstanden, dass er als Schachspieler Unternehmer in eigener Sache ist, auch, dass er Mitglied des Showgeschäfts ist, wenn ich das so sagen darf. Er weiß, dass Geld verdient werden muss, anstatt vom Himmel zu fallen, er versteht, dass wir unseren Sponsoren Gegenleistungen erbringen müssen, beim Auftreten, bei der medialen Präsenz. Insofern passt das zu uns.

Hikaru Nakamura, amtierender Weltmeister im Schach960.

Nicht lange her, da war der SC Viernheim ein regional verankerter, bundesweit wenig beachteter Club. Jetzt seid Ihr Meisterschaftsanwärter. Welche Entwicklung liegt hinter euch?

"Großstädtisches Umfeld". | via Google Maps
"Großstädtisches Umfeld". | via Google Maps

Zu „regional verankert“ möchte ich erstmal ausführen, dass Viernheim zwar eine kleine Stadt mit 34.000 Einwohnern ist, aber im Ballungszentrum Rhein-Neckar mit weit über einer Million Einwohnern. Im Umfeld findest du Heidelberg, Mannheim, Ludwigshafen, und wir liegen mittendrin. Insofern ist unser Umfeld eher ein großstädtisches. Durch die Nähe zu Universitäten haben wir schon in den 80er-Jahren aus dem Hochschulschach Menschen für den Verein akquiriert, Menschen, die uns sportlich vorangebracht haben und die teilweise bis heute als Säulen des Vereins aktiv sind. Dazu kamen einige Spieler aus Frankreich dank der intensiv gelebten Partnerschaft Viernheims mit Franconville und einiger Hochschulkontakte. Internationales Flair und europäischen Geist gibt es beim SC Viernheim seit langem, das ist für uns ganz wichtig: Unsere Großväter haben sich die Köpfe eingeschlagen, unsere Väter die EU gegründet, und wir wollen sie jetzt leben. Damals, in den 80ern, haben wir uns Richtung Oberliga, sogar zweite Liga bewegt. Und wir haben erstmals die Legionärsdebatte geführt, die es in vielen Vereinen gibt: Der kommt doch nur zu uns, um hoch zu spielen oder um Geld zu verdienen, sowas. Aus dem Umfeld eines Clubs mit hoher Identifikation kann ich darauf heute entspannt zurückschauen.

Europäischer Geist, nahe an Frankreich: Viernheims Sébastien Mazé mit einer Strategie-Demonstration in der Bundesliga.

Habt Ihr sportlich damals schon weiter nach oben geschaut?

Wir dachten, dass wir dank unserer Jugendarbeit in der Lage sein sollten, uns in der zweiten, dritten Liga zu bewegen, mehr nicht. Aber die Entwicklung ging sogar dahin, dass wir lange in der zweiten Liga eine gute Rolle gespielt haben. 2013 sind wir zum zweiten Mal nach 1998 nach ganz oben aufgestiegen. Zufällig eher, es war weder geplant noch beabsichtigt. Wir haben in der Bundesliga dann praktisch mit dem Aufstiegskader und ganz kleinem Etat gespielt – und sind direkt wieder abgestiegen. Für den Verein war das eine wichtige Erfahrung und letztlich ein Wendepunkt, auch für unseren Sponsor d-fine, den wir dank des Aufstiegs für uns gewonnen hatten. Wir hatten ganz oben reingeschnuppert und standen vor der Frage, ob wir das jetzt noch einmal angehen wollen, aber diesmal gezielt und mit der Absicht, uns zu etablieren.

Offenbar habt Ihr diese Frage mit „Ja“ beantwortet.

Vereine brauchen einen Plan und Ziele, es muss klar sein, wohin die Reise geht. Um zu wachsen, bedarf es Breitenschachangeboten, Jugendarbeit oder Engagement in Schulen.  Das ist die Grundlage, auf der wir entschieden haben, die Sache zu professionalisieren, auch sportlich. Wir wollen das, unser Sponsor erst recht. Also haben wir es angepackt, nicht nur hinsichtlich der Kaderplanung, auch beim Auftreten nach außen, beginnend bei der einheitlichen Kleidung – die sich schnell zu einem Renner im ganzen Verein entwickelt hat. Gerade beim Auftreten in der Öffentlichkeit wünsche ich mir, dass andere Vereine mehr Ambition entwickeln. Bei uns ist im Lauf der Zeit einiges entstanden, digital, aber auch unser Hochglanz-Saisonmagazin. In der neuen Saison wollen wir medial nochmal nachlegen. 

Markus von Rothkirch über das Schachsponsoring von d-fine und die Schach-DNA des Beratungsunternehmens.

Helfen die Sichtbarkeit und der sportliche Erfolg Eures Profiteams dem Gesamtverein?

Ganz erheblich. Die Synergien, die aus der sportlichen Professionalisierung entstehen, sind für uns ein wesentlicher Antrieb. Durch die erhöhte Sichtbarkeit werden wir jetzt ganz anders wahrgenommen und erfahren in unserem Umfeld mehr Unterstützung als noch vor ein paar Jahren. Ein einfaches, aber für jeden Schachclub ohne eigenes Vereinsheim relevantes Beispiel: Wir finden jetzt leichter Räumlichkeiten fürs Schach. Ein anderes: Unser Etat für Jugendtraining ist gestiegen. Die Mittel fließen nicht nur in die Profimannschaft.

Du hast schon die vereinsinterne Legionärsdebatte angesprochen. Diese Debatte berührt, wie viele Beobachter die ersten Mannschaften der Bundesligisten wahrnehmen: als Legionärstruppen, die nicht einmal in ihrem Verein Identifikation auslösen. Wie ist das bei euch?

Anders. Es macht einen Unterschied, ob du einfach nur Elopunkte verpflichtest und sie zum Mannschaftskampf von irgendwo einfliegst, oder ob du darauf achtest, ein funktionierendes Gefüge zu erschaffen. In Sachen Identifikation geben wir auch Sachen vor oder verlangen sie schlichtweg von unseren Profis, zum Beispiel die Teilnahme an den Blitzturnieren, in denen alle Vereinsmitglieder die Gelegenheit bekommen, sich mit den Großmeistern aus der ersten Mannschaft zu messen. Aber vor allem achten wir mit unserer jahrelang gewachsenen Erfahrung darauf, dass unsere Leute Mannschaftsgeist mitbringen und sich als Mannschaftsspieler verstehen. Dass jemand nach einem schnellen Remis sofort sein Geld fordert, weil er noch während des laufenden Kampfs abreisen will, wie ich es anderswo erlebt habe, wird in Viernheim nicht passieren. Es muss menschlich passen, es muss auch zum Geist und den Werten des Vereins passen. Jemand, der Putins Propagandaturniere mitspielt, hätte bei uns keinen Platz.

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Das stärkste Vereinsblitzturnier der Welt: Auf dem Brett steht es nicht gut um Dominique Sattel (Elo 2106), aber das kann passieren, wenn gegenüber ein schachliches Schwergewicht wie Shakhriyar Mamedyarov sitzt. Beobachter des Duells (von links): Majed Al Helaoy, Stefan Martin, Klaus Gottschall, Jan-Krzysztof Duda, Maximilian Meinhardt, Malte Markert. | Foto: Stefan Spiegel

Das Verfahren um die „Teilnahmevoraussetzungen“ endete für die Bundesliga mit einer Niederlage vor Gericht. Wie bewertest Du das?

Das Ziel, breiter aufgestellte und stabile Bundesligisten mit einer Vorbild- und Leuchtturmfunktion fürs deutsche Schach zu bekommen, halte ich für gut und richtig. Dieses Ziel gilt meines Erachtens weiterhin. Insofern sehe ich das Gerichtsurteil eher als Zwischenschritt und gar nicht negativ. Dass jemand klagt, war vielleicht sogar abzusehen, und das ist ja auch in Ordnung in einem Rechtsstaat. Der Vorteil daran ist Rechtssicherheit, die bekommst du nur durch Urteile. Uns liegt seit dem Urteil eine ausführlich begründete Entscheidung vor. Der Richter beleuchtet, was für die Liga machbar ist und was nicht. Jetzt liegt es an der Bundesliga, auf dieser Basis eine Regelung zu finden.

Also sind die Teilnahmevoraussetzungen nicht vom Tisch?

Das Ziel bleibt bestehen. Es kann doch nicht sein, dass sich aus der höchsten deutschen Spielklasse laufend Vereine zurückziehen, weil sie auf einmal finanzielle Probleme haben. Oder weil die ehrenamtliche Basis wegbricht. Jeder Verein braucht nicht Einzelkämpfer, sondern einen Pool von Leuten, die es gemeinsam tragen. Das hat mit der Identifikation mit der Sache zu tun, über die wir schon gesprochen haben. Ein einzelner Mäzen, der vor Bundesligaspieltagen einen Bus nach Belgrad schickt, wo dann acht Großmeister zusteigen, die im Verein keiner kennt – das ist kein stabiles Konstrukt. Es fehlen Substanz und Nachhaltigkeit.

Wo bleibt das Ziel, Einheimische zu fördern, angesichts der Schwierigkeiten mit dem EU-Recht?

Die Ausgangslage hat sich nicht geändert. Das deutsche Schach ist in der Weltklasse allenfalls eingeschränkt konkurrenzfähig. Und die Verdienstmöglichkeiten für Topspieler in Deutschland sind vergleichsweise schlecht. Wir haben zwar eine Superliga, aber kaum Vereine, die deutsche Topspieler langfristig zu guten Konditionen an sich binden. Unter anderem deswegen war ja die Idee mit dem Punktesystem für den Einsatz Einheimischer entstanden. Für die Bundesligisten sollte es reizvoll sein, Profis oder angehenden Profis aus Deutschland einen Teil ihres Einkommens zu sichern. Das umzusetzen, ist nach dem Urteil allerdings schwierig geworden. Wir stehen jetzt vor der Diskussion, ob wir an dieser Stelle vielleicht europäischer denken müssen. Oder ob wir uns verstärkt nach alternativen Wegen umschauen.

Was für einen Weg schlägst Du vor?

Ausbildung. Der Fokus muss doch gar nicht darauf liegen, woher eine Spielerin oder ein Spieler kommt. Wichtig ist, dass der Spieler in seinem Bundesligaverein durch die Mannschaften von unten nach oben geht, begleitet von Training und Förderung. Hamburg oder Kiel sind Beispiele dafür. In solchen Vereinen kannst du dich vom Anfänger bis zum Großmeister entwickeln. Und das zeigt, solche Vereine haben heute schon die Substanz, die alle Bundesligisten haben sollten. Aus dieser Substanz wiederum wächst im Verein Identifikation mit der Sache, weil die Kleinen aus der Kindergruppe die Bundesligaspieler beim Vereinsabend sehen und ihnen nacheifern. So entstehen Gruppeneffekte, so bildet sich ein fruchtbares Klima und Engagement für den Verein. Wir sehen das ja selbst. Jugendliche, die überlegen, zu uns zu kommen, fragen ganz gezielt, wer bei uns trainiert, mit wem sie Analysegruppen bilden können, zu welchen Turnieren wir fahren, was online läuft und so weiter. Sie wollen Teil einer Gemeinschaft sein, in der sie wachsen können.

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