Der SV Wattenscheid sagt adieu
Der SV Wattenscheid zog sich nach Ablauf der vergangenen Saison aus der SBL zurück. Timo Sträter, der jahrelang für den Ruhrpottklub an die Bretter ging und auf dieser Webseite die Leser mit seiner Kolumne begeisterte, schaut auf 16 Jahre Schachbundesliga zurück und verabschiedet sich mit einem kleinen Meisterwerk. Vorhang auf!
Verehrte Leser,
ein betrüblicher Anlass führt uns heute noch einmal zusammen. Sie haben es inzwischen sicher schon gehört, längst ist es auch offiziell: Der Schachverein Wattenscheid beendet nach 16 Jahren sein Bundesliga - Engagement. Zeit für einen kleinen Rückblick, sollte man meinen. Aber wie fängt man die Sache an? Eine gerechte Würdigung des Gesamtkunstwerks würde epische Ausmaße annehmen; eine Tortur für den Leser, vor allem aber für den Schreiber. Strenge Sachlichkeit und wohltuende Kürze sollen Richtschnur des Handelns sein.
Der Grund hierfür ist nicht nur Faulheit. Es fällt schwer, die 16 Jahre in der Gesamtschau zu erfassen. Hotels haben Tresen, Tresen haben Gäste. Ich könnte mir heute noch etliche dieser Tresen geradezu plastisch vor Augen führen, allerdings ohne sie zeitlich oder räumlich verorten zu können. Der Bundesliga - Alltag vermittelt mit seinen x- mal geübten Routinen wohlige Sicherheit, lässt das Gemüt des Chronisten indes erschlaffen. Stimmungen, Namen, Gesichter verschwimmen , hatte man damals in Dresden Pommes oder Kroketten zum Schnitzel?
Einige Episoden bleiben freilich haften, mancher dramatische Moment hallt lange in der Erinnerung nach. Lassen wir also noch einmal einige dieser Episoden Paroli laufen, kosten wir noch einmal die dramatische Größe des Augenblicks, zerren wir noch einmal am Mantel der Siegesgöttin. Dabei muss zwangsläufig vieles Skizze bleiben. Eine ausführliche Würdigung der Vereinsgeschichte etwa werden Sie vergeblich suchen, ebenso eine detaillerte Vorstellung der Spieler oder irgendwelche Statistiken. Spüren wir stattdessen dem Geist dieser aussergewöhnlichen Truppe nach, ihren Stärken und Schwächen, vor allem aber ihren großen Momenten. Beginnen wir am Anfang.
1. Aufstieg
Der Weg in die Bundesliga war keineswegs ein gerader, geschweige denn ein geplanter. In der Saison 1996/97 gelang uns, etwas überraschend, der Aufstieg in die 2. Bundesliga West, einer wahren Marterstrecke für ehrgeizige Mannschaften. Gruppensieger wurde meist die mächtige 2. Mannschaft der Schachfreunde Köln-Porz, die ja damals unaufsteigbar war. Dahinter folgte dann bescheiden der tatsächliche Aufsteiger. Doch 1997/98 bot der Godesberger Lokalrivale eine noch mächtigere Mannschaft auf, die mit Macht in die erste Liga drängte.
Wir schmiegten uns unauffällig ins Mittelfeld und hatten mit dem Aufstieg eigentlich nichts zu tun. Nach einigen strammen Kampfleistungen spielte man dann plötzlich vorne mit, aber was hieß das schon? Godesberg schlug uns im direkten Vergleich, die Sache schien erledigt. Doch dann strauchelten die Bonner (erinnere die Details nicht mehr), und plötzlich befanden wir uns vor der letzten Runde in der "Pole Position". Ein einfacher Sieg reichte uns zum Aufstieg, das war gut. Schlecht war, dass der Gegner Porz zwo hieß. Unter normalen Umständen eine harte, vielleicht unlösbare Aufgabe. Bangen Herzens trafen wir in Porz ein, was würde uns erwarten?
Eine zwiespältige Überraschung: Die Porzer Spitzenbretter traten zum Kampf nicht an und wurden genullt. Mit einem 2-Punkte-Vorsprung im Rücken zitterten wir uns schließlich zu einem 4.5-Sieg, und konnten es nicht fassen: Aufstieg! In Godesberg war man nicht amüsiert. Die Geschichte löste damals gelindes Rauschen im Blätterwald aus, es gab ein wenig Korrespondenz und Geschichten von angeblich versprochenen Siegprämien machten die Runde. Aus Protest gegen die Mannschaftspolitik seines damaligen Vereins erklärte Frank Holzke öffentlich seinen Austritt aus der SG Porz. Fortan spielte er für Wattenscheid und blieb bis zum Schluß Stammspieler unserer ruhmreichen ersten Mannschaft.
Warum ich das so ausführlich erzähle? Weil es ohne diesen schrägen Sonntag eine Erstligamannschaft Wattenscheid wohl niemals gegeben hätte. Wären wir damals gescheitert, wir hätten es vielleicht nie mehr geschafft. Natürlich hat die Sache ein Geschmäckle. Wir profitierten von einer "merkwürdigen" sportlichen Konstellation und gewannen einen Kampf, den wir vielleicht nicht hätten gewinnen dürfen. In die Freude mischte sich denn auch leichte Beklommenheit, aber was hätten wir tun können bzw. sollen? Die grollenden Godesberger stiegen im nächsten Jahr mit Glanz und Gloria auf, und die Geschichte nahm ihren gesetzmäßigen Fortgang. Längst ruht die kleine Affäre in den Archiven. Aber ich denke oft zurück an jenen Sonntag im fernen Jahr 1998, an die unbändige Freude, das Schulterklopfen und Flaschenöffnen. Und an das alte Spiellokal der SG Porz, in dem es immer ein gepflegtes Bier gab und das melodische "Rums-Bums" der Bundeskegelbahnen wie Musik in den Ohren klang.
2. Der Messias "delievert"
Unsere erste Bundesliga-Saison ging erstaunlich glatt über die Bühne. Nach einem Auftaktsieg gegen die Schachfreunde aus Viernheim (mentalmäßig wichtig!), trudelten wir am Ende auf dem entspannten 9. Platz ein. Dabei hatten wir uns personell nur geringfügig verändert. Zu einer kleinen Truppe aufrechter Nordmänner (J. Hall, P. Sjödahl, A. Ziegler) kam der aufstrebende Däne Peter Heine Nielsen, sonst verliess man sich auf das deutsche Stammpersonal.
Natürlich gewann auch Wattenscheid erst über die Jahre an Profil. Aber es war schon vieles vorhanden, was später den Geist dieser Mannschaft ausmachen sollte: Überdurchschnittlicher Kampfgeist und überraschende Einzelleistungen ebenso wie überflüssige Niederlagen und Geistlosigkeiten galore. Der gesicherte Mittelplatz mit wenig Drall nach oben oder unten. Vor allem aber ein überragender Mannschaftsgeist, der das Spielen zur wahren Freude machte.
Na also, es ging doch! Und sogar ziemlich souverän - jedenfalls in meiner Erinnerung. Jetzt hatten wir Blut geleckt und wollten es wissen. Weitere Verstärkung musste her. Die kam zur Saison 1999/2000 in Form von Alexander Rustemov, vielversprechender russischer Großmeister und seinem Sparringspartner Alexander Morosewitsch (Die russischen Namen schreibe ich so, wie es mir gerade einfällt, Sie werden verzeihen. Man erkennt jedenfalls, wer gemeint ist). Rustemov ist den Lesern meiner Kolumne kein Unbekannter mehr, Morosewitsch bedarf keiner Vorstellung. Er war noch nicht der Titan späterer Jahre, aber schon damals verbreitete sein Name Furcht und Schrecken. Jetzt konnte doch nichts mehr schiefgehen, dachten wir.
Die Saison wurde dann ein ziemliches Desaster. Schon der Auftakt liess nichts Gutes ahnen. Im Kampf gegen Castrop wollte Moro auf Deubel komm raus gegen Nigel Short gewinnen und trat am Ende das Bodenblech durch. Kann passieren, aber leider waren Partie und Kampf - der natürlich auch verloren ging - Menetekel für den ganzen Saisonverlauf. Sie wissen wahrscheinlich, wie ein schlechtes Turnier läuft: Man kann stehen wie man will, es wird kein voller Punkt daraus. Aber wehe, man steht nur etwas schlechter. Dann ist der Gegner Ulf Andersson und wieder ist man zweiter Sieger. Am Ende stehen meist massive Ratingverluste und ein unterer Tabellenplatz. Die Krise hatte uns fest im Griff. Immerhin hatten wir genug Punkte für eine letzte Chance zusammengekratzt. Alles war gerichtet für den Showdown.
Am 08. und 09. April 2000 mussten wir bei Reisepartner Solingen gegen Plauen und Dresden an die Bretter. Zwei Siege mussten her, sonst war es Essig mit der Bundesliga. Dummerweise waren unsere Gegner aus Dresden in der gleichen Situation. Wir karrten also an die Bretter, was nur möglich war, auch der inzwischen sündteure Moro kam noch einmal zum Einsatz. Der Schmerz in der Gesäßtasche wurde erheblich durch zwei schöne Siege des genialen Russen gemildert, der an diesem Wochenende letztmalig für Wattenscheid die Figuren bewegte. Sehenswert sein Gewinn gegen den unverwüstlichen Alexander Beljawski:
Beliavsky,Alexander (2618) - Morozevich,Alexander (2758)
Bundesliga 9900 (14.1), 08.04.2000
Stellung nach 19...Lxd6:
Seinem Naturell entsprechend hatte "Big Al" ordentlich Dampf gemacht, aber Moro ist bekanntlich auch nicht von Pappe. In der Diagrammstellung droht der schwarze Ansturm übermächtig zu werden; der große Angreifer Beliavsky findet eine kreativ - brutale Lösung des Stellungsproblems. 20.Sxc4!? bxc4 21.Txd6 Das sieht ja erst einmal ganz gediegen aus, aber Moro findet die Lücke im Zaun. 21...Dc7! 22.Txf6 Besser war lt. Rechner 22.Lxf6 Dxd6 23.fxe5 De6, aber allzu tief wollen wir gar nicht leuchten. Der erregende Kampf hat seine eigenen Gesetze, mögen die Rechner blinken, was sie wollen. 22...cxb3! 23.axb
23...Tac8! Die Schwächen der weißen Stellung werden hübsch unterstrichen. 24.Te1 Sxf6 25.Lxf6 Db6?! 25...exf4! 26.gxf4 Tfe8!-+ und Weiß geht an seinen zahlreichen Schwächen zugrunde. Im Text bekommt er noch etwas Luft. 26.fxe5 Dxb3 27.Le7 Tfe8 28.Ld6 Te6 29.Td1
29...g5! Schön gespielt. Schwarz muss sich zunächst noch etwas sammeln, bevor er zur entscheidenden Attacke blasen kann. Mit der Beseitigung der Nervensäge h6 wird auch der Turm eigentümlich aktiv. 30.Td4 a5 31.De3 Txh6! 32.Dxg5+ Tg6 33.De3 h6! Die scheinbar noch recht solide weiße Stellung steht in Wirklichkeit kurz vor dem Abbruch. Ein kleiner Schritt noch... 34.Kb1? Kh7 35.Td2?
35...Lxe4+! So geht es in bedrängter Lage oft, irgendwann übersieht man eben einen Einschlag. 36.Dxe4 Txc3 37.e6 Te3 0-1
Das Kapitel Morosewitsch war für Wattenscheid kurz, niemand konnte anderes erwarten. Der stille Russe blieb stets ansprechbar, hielt aber eine gewisse Distanz und wirkt auf Fotos jener Zeit oft merkwürdig unbeteiligt. Aber als wir die Punkte brauchten, erschien der Messias Moro, wenn auch nicht für Gotteslohn, und er delieverte. Er tat vielleicht nur, wofür er ausgebildet war, das aber mit Verve und Hingabe. Dass unsere Reise so lange weitergehen konnte, haben wir auch ihm zu verdanken.
Wir gewannen schließlich knapp gegen Plauen, die halbe Miete war im Sack, um dieses schöne Bild zu benutzen.
Der Sonntagskampf gegen Dresden war dann ein Drama, wie ich es in 16 Jahren kein zweites Mal erlebt habe. Bei Gleichstand musste die letzte Partie entscheiden, auch für Dresden ging es um alles oder nichts. Johannes Franke verteidigte ein problematisches Turmendspiel gegen Thomas Heinatz. Das sah nicht gut aus. Ah, wieder unklar!? Die Laune hob sich kurzfristig. Nee, doch verloren. Oder? Träge schlichen die Minuten dahin. Dann schien es nicht mehr so klar zu sein, immerhin.
Heinatz,Thomas (2349) - Franke,Johannes (2272)
Bundesliga 9900 (15.8), 09.04.2000
Stellung nach 58...Kg4:
Komplizierte Turmendspiele zu vorgerückter Stunde sind die Freude des Praktikers; dem emotional beteiligten Zuschauer nötigen sie manche Grimasse ab. Von dem Ausgang dieses Endspiels, so mußten wir glauben, hing der Verbleib in der 1. Liga ab. Bleischwer lastete die Verantwortung für jeden Bauernzug, jeden Turmschwenk auf den Spielern. Wir anderen tigerten unruhig auf und ab, nur hin und wieder riskierte man einen Blick. Und alle dachten wir das gleiche: Vater, hol mich weg von der Zeche! 59.c7?? Richtige Idee in falscher Ausführung. Zum Remis führte 59.Ta4+! f4 60.Tb4! und die Drohung b6-b7 zwingt Schwarz zum Dauerschach durch 60...Tc2+ 61.Kg1 Tc1+ Was in diesem Falle gewesen wäre, weiß ich nicht mehr; wahrscheinlich hätte es beiden Teams nichts genützt. Wahrscheinlich verschmähte Heinatz aus diesem Grund die sichere Fortsetzung, aber der Gewinnversuch geht in die Hose. 59...Tc2+ 60.Kf1?? Aber erst das verliert - hätten Sie's gedacht? Probleme hat Weiß aber auch nach 60.Kg1 Txc7 61.Tg6+ Kf3 62.Tc6 Ta7, aber nun genug der Analysen. Der weiße Fehlgriff ist im Grunde rein zufälliger Natur, nur der allmächtige Eisenhein erkennt den Unterschied sogleich. Das weiße Problem besteht darin, dass sein Turm keine kräftige Wirkung entfalten kann, während er in obiger Remisvariante gleich zwei wichtige Aufgaben wahrnahm: Fesseln der gegnerischen und Unterstützen der eigenen Bauern. Der feine Endspieler Johannes Franke ergriff seine quasi - historische Chance und scorte in einer der wichtigsten Wattenscheider BL - Partien überhaupt. 60...Txc7-+ 61.Tg6+ Kf3
Es naht ein großer Wattenscheider Moment: in der letzten Partie des letzten Kampfes sicherten wir uns aus eigener Kraft den Klassenerhalt. Ehre auch dem Besiegten, der scheiterte, weil er zum Siegen verdammt war. Ein dramatisches Stück und der Stoff, aus dem Legenden sind. Als Mannschaft freilich kann man auf derartige Dramen ganz gut verzichten. 62.Tc6 Td7 63.Tc3+ Kg4 64.b6 Td1+ 65.Kg2 f4
Aus. Wer holt Bier? 66.Tc4 Td2+ 67.Kg1 Tb2 0-1
Unbeschreiblicher Jubel brach aus, der Retter Johannes wurde gefeiert wie nie zuvor. Später erfuhren wir dann, das Dresden sein Team in jedem Fall zurückgezogen hätte, was dem dramatischen Entscheidungskampf im Nachhinein die sportliche Bedeutung raubte. Der Magie des Augenblicks tat die profane Wahrheit keinen Abbruch. Wir hatten gekämpft und gesiegt, wir waren noch dabei. Das Abenteuer konnte weitergehen.
3. Das Team
Eigentlich ist es ja ein merkwürdiger Anblick: Acht Individuen sitzen über hölzerne Bretter gebeugt - und spielen. Emotionslosigkeit gilt als Tugend, verschwitztes Haar eher nicht. Gerät ein Spieler in Bedrängnis, leisten die Kameraden allenfalls moralischen Beistand, indem sie, gern bewehrt mit einer Flasche Bier, aus der Distanz bedenkliche Gesichter machen. Der Schiedsrichter blättert konzentriert in der Gazette. Ältere Zuschauer nicken wissend. Nirgendwo eine Spur von Emotion. Man möchte bewundernd nähertreten, vielleicht ein Wort sprechen. Die Krieger des Geistes aber weisen uns unwirsch zurück. Mal unter uns, so wird das nichts mit der Popularisierung des Schachs.
"Der Schach ist auch Event" stellte einst ein Politiker zutreffend fest. Die neue Kleiderordnung kann da nur ein Anfang sein. Schach wird, ne Eine mit bebender Stimme in 14 Sprachen verlesene Erklärung gegen Schachophobie und interkulturelles Abklatschen nach dem Spiel sind heute Mindeststandards. Aber das nur nebenher. Trotzdem kann es Riesenspaß machen, in einer Mannschaft zu spielen - wenn man die richtige Mannschaft erwischt hat. Über die Jahre veränderte das Team sein Gesicht. Der harte deutsche Kern der allerersten Jahre (Holzke, Sandkamp, Köhn, Franke, Sträter, etwas später Handke und Thiel), dünnte mehr und mehr aus. Im Bundesliga - Schach wohl der normale Gang der Dinge: was ursprünglich als Projekt von Zeitgenossen für Zeitgenossen geplant war, nimmt Fahrt auf und entwickelt sportliche Eigendynamik. Man war ja auch stolz auf das Erreichte, schon bald war man eine feste Größe, mit Wattenscheid war zu rechnen.
Die Krise von 99/2000 sollte sich niemals wiederholen, die Mannschaft gewann an Stabilität und Statur. Ein Grund dafür war unsere äußerst erfolgreiche Personalpolitik, die von Coach Uli Wolf in Zusammenarbeit mit Talentscout Rustemov besorgt wurde. Für die neue Saison hatte man schon eine Neuverpflichtung: Levon Aronian, damals zarte 17 Jahre alt; ein quirliger Armenier, dessen Name im Westen nur andeutungsweise bekannt war, der aber schon in der ersten Saison gehörig auf den Busch klopfte und mit etlichen Siegen gegen renommierte Großmeister nachdrücklich auf sich aufmerksam machte. Hier und dort wurde er noch im Endspiel ausgedrückt oder leistete sich strategische Schnitzer. Aber schon damals konnte ihn niemand im Blitzen schlagen, durch deutsche Mannschaftsturniere schnitt er wie das Messer durch die Butter. Wie man sich auch anstellte, stets wurde man düpiert, gern mit Wasistlos - Eröffnungen und ohne wirklich hinzuschauen.
Legendär waren die 3 - Minuten - Duelle zwischen dem armenischen Genius und dem damals amtierenden Internet-Blitzgott Alexander Rustemov. Ungläubig kopfschüttelnd schaute man dem artistischen Gebolze zu. "Gib's ihm, Alex" riefen wir von der Seite. "Ich versuche es ja, verdammt noch mal. Aber der steckt voller Tricks!" Seine ganz große Zeit lag noch vor ihm, aber sein gewaltiges Potential liess Levon mehr als nur erahnen. Letztlich mussten wir auch ihn ziehen lassen, 2003 verliess er Wattenscheid in Richtung Kreuzberg. Ich denke, er hat uns in guter Erinnerung behalten.
Im Laufe der Zeit vertrat mancher große Spieler die Wattenscheider Farben; die Wattenscheid All Stars würden locker um die Meisterschaft mitspielen. Wir haben uns von Aronian im Blitzspiel demütigen lassen und konnten Messias Moro bei der Entscheidungsfindung über die Schulter linsen. Legenden und Legenden in Ausbildung durften wir bestaunen, taktische Wunder schauen und fein ziselierte Endspiele goutieren. Moro, Aronian, Eljanov, Najer und Vitiugov; Peter Heine Nielsen und Gabriel Sargissian, nicht zu vergessen Bartek Macieja, Mateusz Bartel und Pavel Czarnota, legten sich für Wattenscheid in die Riemen und liessen uns an ihrer Kunst teilhaben. Es waren goldene Jahre.
Auch die deutsche Mittelachse wurde dank spielstarker Neuzugänge immer kräftiger: Ralf Appel, Florian Handke, Frank Holzke und Volkmar Dinstuhl, gelegentlich ergänzt durch den Verfasser und/oder Thomas Thiel bildeten viele Jahre den harten Kern der Truppe, in vielen Schlachten bewährt und immer für überraschende Schläge gut, allerdings auch für krachende Klatschen. Sie war das Herz der Mannschaft und der Motor der Erfolge. Der relativ bescheidenen Erfolge, möchte ich hinzufügen.
Unsere sportliche Leistungsbilanz blieb über die Jahre eher unauffällig - durchschnittlich, große Aufreger sucht man, die Krise beiseite, vergebens. Aber gestählt durch vortrefflichen Mannschaftsgeist konnte diese Truppe auch in Unterzahl immer wieder Erstaunliches auf die Beine stellen, gelangen immer wieder Siege gegen nominell klar überlegene Mannschaften. In vielen Jahren gemeinsamer Kämpfe und - gern auch feuchtfröhlicher - Gesprächsrunden lernte man sich kennen und schätzen. Wir standen in historischen Altstädten im Tresen (fragen Sie mich, wo), speisten im Hofbräuhaus und nickten aus der Ferne anerkennend dem Reichstag zu: Entscheidungen treffen, da kennen wir uns aus! Unzählige Kilometer haben wir zusammen gefressen, dutzende, ach was, hunderte von Jägerschnitzeln vertilgt. Schach ist und bleibt ein Einzelsport. Aber wo die acht Individuen in locker - freundschaftlicher Atmosphäre beschwingt aufspielen können, entstehen Verbundenheit und Opferbereitschaft: Mannschaftsgeist eben - natürlich minus gelegentlich aufploppender Schwächeleien oder sonntäglicher Faulheit. Aber als starker Faktor immer präsent und - an guten Tagen und mit etwas Rückenwind - nicht selten das Zünglein an der Waage. Später wurde die deutsche Bastion noch durch Sebastian Bogner und Tobias Hirneise verstärkt, die Mannschaft gewann weiter an Profil und Schlagkraft.
Die beste Mannschaft bringt nicht viel ohne ein fähiges Hinterland. Unsere "Erste" fand immer volle Unterstützung durch Vorstand und Verein. Präsident Veit Kempen, Dr. Manfred Thon und Wilfried Schröder boten den ermatteten Meistern Nachtlager und menschlichen Zuspruch, sie investierten Zeit, Geld und Geduld, um unser Schiff auf Kurs zu halten. Den größten Anteil am Erfolg hat aber fraglos ein Mann: Uli Wolf. Mit ruhiger Hand navigierte er seine Jungs durch das Abenteuer Bundesliga, organisierte und packte mit an, fuhr endlose Autobahnen, mailte der russischen Botschaft, löhnte die Jägerschnitzel. Er ließ seine Jungs machen und hielt sich im Hintergrund, mochten andere ihren Spielern Vorträge halten. Wir hätten uns keinen besseren Mannschaftsführer wünschen können.
Das Team, das waren wir alle. Dass die Spieler meist im Vordergrund standen, liegt in der Natur der Sache. Aber ohne Uli und die Herren vom Vorstand, ohne die vielen freiwilligen Helfer und Supporter hätte es eine Bundesliga - Mannschaft Wattenscheid nie gegeben. Ihr alle seid Väter und Mütter des Erfolges. Was kann ich noch sagen? Danke Jungs, danke Verein, für eine großartige Zeit.
4. Partien, die man nicht vergißt
Jetzt präsentiere ich Ihnen einige der weiter oben erwähnten, erstaunlichen Einzelleistungen, die zwar nicht immer sportliche Bedeutung hatten, aber oft genug zumindest einen Kontrapunkt in einem Meer der Trübnis setzten (Ich sage nur: Baden - Baden). Auch hier sollen keine ellenlangen Analysen folgen, was zählt ist die Erinnerung.
Ein sportliches Highlight der frühen Jahre war natürlich der erste Sieg gegen unseren langjährigen Reisepartner Solingen aus dem Jahre 2001. Es war einer dieser Tage, an denen alle glückhaften Umstände zusammentrafen. Vorn besiegte der junge Levon den schon berühmten Kasim, dahinter schlug Nielsen Jussupow - zwei volle Punkte, mit denen nicht unbedingt zu rechnen war. Damit ein Mannschaftssieg daraus wurde, mussten natürlich kleine Wunder geschehen - es wurde ja noch an sechs weiteren Brettern gespielt. Aber an diesem güldenen Sonntag sollte es gelingen.
Einen schönen Sieg errang auch Holger Ellers, der heute als solventer Rechtsanwalt in Berlin residiert. Schönen Gruß, alter Knabe! Sein Gegner Eric Lobron gehörte einst zum Bundesliga-Inventar, wurde aber schon seit etlichen Jahren nicht mehr in den heiligen Hallen gesichtet. Mit seinem dynamisch-agressiven Stil war er Garant für knackige Kampfpartien, hier allerdings mußte er der Zeitnot Tribut zollen.
Lobron,Eric (2530) - Ellers,Holger (2418)
Bundesliga 0001 (7.6), 28.01.2001
Stellung nach 26...Taxc5:
Nach soeben erfolgtem Damentausch scheint Schwarz am Ruder zu sein, aber mit aktiver Verteidigung kann Weiß das Gleichgewicht halten. 27.Sb5! Verhindert den direkten Rückgewinn des Bauern und bringt den Springer in eine gute Verteidigungsposition. Jetzt noch den Turm b4 und der Angriff auf a4 sollte zum Ausgleich genügen. 27...T8c6 28.Sa7 Tc7 29.Tb8+!? 29.Sb5, und ich nehme an, dass mein alter Freund Holger Ellers der Zugwiederholung zugestimmt hätte. 29...T7c6 30.Sa7 Ta6 31.Sb5 Txc4 32.Tb4 ist jedenfalls nicht besser für Schwarz. Doch Eric war inzwischen etwas knapp an Zeit, 11 Züge waren in wenigen Minuten zu bewältigen. Ob der große Fighter Lobron die Partie unbedingt noch gewinnen wollte, oder sich in Zeitnot einfach verdribbelte, weiß er nach so vielen Jahren wahrscheinlich selbst nicht mehr so genau. Bald jedenfalls begannen die weißen Probleme und ein fröhliches Zeitnot-Blitzen setzte ein. 29...Kh7 30.Sb5 Td7
31.Te2? Es ist einer dieser Züge, die sich in akuter Zeitnot in ihrer gefälligen Tendenzlosigkeit so wunderbar in die Hand schmiegen. Gegenspiel war vonnöten: 31.Tb6! Txc4 32.Ta6 hielt die Partie in der Remisbreite. 31...Txc4 Schwarz hat jetzt das bessere Spiel, da seine Türme ihren Gegenspielern überlegen sind. Entscheidend muss dies keineswegs sein, aber im Zack-Zack-Tempo geht der Sinn für Feinheiten oft verloren. 32.h3? Und das ist schon direkt schädlich. 32...Sd5!? 32...h4! hätte den Weißen in arge Nöte gebracht. 33.Ta8 f5
Aber auch so hat Schwarz schönen Vorteil; Weiß ist vor allem durch ...f5-f4 bedroht. 34.Tb2? Ok, es ist ein bißchen unfair, hier jeden Zeitnot-Schnitzer akribisch abzuhaken, also lassen wir das ab jetzt. Praktisch sollte die weiße Lage ohnehin unhaltbar sein, denn es findet sich kaun ein vernünftiger Zug. 34...f4 35.gxf4? h4 35...Sxf4+ 36.Kg3 Sd3 37.Tc2 Td5! gewinnt auf recht schwer zu sehende Weise direkt. 36.Ta5 Sxf4+ 37.Kh2 Td3-+
Und jetzt steht sogar "matt" drauf - hätte man in der Ausgangsstellung nicht unbedingt gedacht. Ein wichtiger Sieg, der den Gleichstand im hart umkämpften Match herstellte. 38.Kg1 Txh3 39.Tb4 Tc5 0-1
Es naht die Entscheidungspartie, die in ihrer irrlichternden Schönheit Auge und Gemüt gleichermaßen erfreut.
Straeter,Timo (2370) - Rowson,Jonathan (2494)
Bundesliga 0001 (7.7), 28.01.2001
Stellung nach 42.Ld1:
Weiß steht schlecht. Seine Blößen werden noch vom Sd5 notdürftig bedeckt, aber in Kürze droht ungebetener Besuch. Der schwarze Plan muss offenbar Spiel am Damenflügel sein: Richtig getimter Tausch auf d5, nebst ...Kc7-d6-c5 o. ä. DerAufmarsch wird paradoxerweise durch den prächtigen Sc5 behindert, der, Statuen gleich, einen schönen Anblick bietet, den Blick auf das Wesentliche aber verstellt - irgendwie fällt mir da Lenin ein. 42...h5?! Die sinnreiche Umgruppierung 42...Sd7! 43.Sb6 Kc7 44.Sd5+ Kd6 mit großem Vorteil für Schwarz, hätte das weiße Schicksal wahrscheinlich besiegelt. Der Textzug ist weniger griffig, da auf der h-Linie nichts zu holen ist. 43.Kf2 Th8?! Nach und nach vertändelt der symphatische Schotte seinen Vorteil. 43...f5! ist ein Tipp vom Eisernen. Was unlogisch aussieht, ist in Wirklichkeit stark, weil es den überlegenen schwarzen Figuren neue Aktionsmöglichkeiten verschafft. Aber lassen wir lange Analysen, die Partie ist ja insgesamt keineswegs ein Knaller, sie gewinnt ihren Wert allein durch ihre sportliche Bedeutung. Für mich wird sie natürlich ein Evergreen bleiben, eine Begegnung, die man nicht vergisst. 44.Ke3 Ich verstand, dass ich nicht mehr wesentlich schlechter stand und traute mir ein schüchternes Remsiangebot zu. Abgelehnt. Kurze Zeit später musste wir wegen zu starken Lichteinfalls den Tisch verrücken, was der Konzentration des Großmeisters nicht förderlich gewesen sein mag. 44...h4 45.gxh4 Txh4 46.Sf4 Lc8?! 47.g3 Th8 48.Td5 Se6 49.Lf3 Te8 50.e5 Sd8 51.Tc5
Weiß hat sich gewissermaßen auf Kosten des Gegners saniert und kann jetzt getrost in die Zukunft blicken. 51...Se6 Vielleicht nicht die beste Wahl. Obwohl die Lage im Gleichgewicht bleibt, kommt die Vereinfachung eher Weiß zugute. 52.Sxe6 fxe6 52...Lxe6? 53.Kf4 ist beschwerlich für Schwarz. 53.Kf4 Tf8+ 54.Kg4= Td8 Mit aktivem Spiel hält Schwarz das Gleichgewicht. Um zu gewinnen, müsste Weiß die Aufstellung Kg5, Le4, g3-g4 hinbekommen, aber immer fährt Schwarz mit ...Td3 dazwischen. Deshalb versuchte ich das verschmitzte 55.Kh4!?
und hatte überraschend Erfolg, da Rowson in einem Anfall von Schachblindheit die Gurke 55...Th8+?? aus dem Glas fischte. 55...Td3 56.Lg2 Td2 57.Lh3 Th2! hindert Weiß an der Entfaltung seiner Kräfte und macht leicht Remis. 56.Kg5 Th3 57.Kg4! Das hatte er sichtlich unterschätzt. Weiß verwirklicht obige Gewinnaufstellung mit Tempo. 57...Th8 58.Le4± Tg8 59.Kg5 Ld7 Und das verliert, da der weiße König entscheidend einsteigt. 59...Tf8 60.Lxg6 Ld7± war freilich auch eine arge Quälerei. 60.Kf6+-
und Weiß gewinnt. Den technischen Teil erledigte ich selbstredend kak machina, nichtwahr. 60...g5 61.Lg6 g4 62.Lf7 Th8 63.Ke7 Lc6 64.Lxe6 Kc7 65.Ld5 Th5 66.Lg2 Tf5 67.Le4 Th5 68.Kf6 Th3 69.e6 Th6+ 70.Lg6 Kd6 71.Txc6+ bxc6 72.e7 Txg6+ 73.Kxg6 Kxe7 74.Kf5 Kd6 75.Kxg4 Kc5 76.Kf5 Kxc4 77.g4 1-0
Es ist eine Partie, wie man sie wohl nur einmal im Leben spielt. Rein schachlich war sie keine Offenbarung, sogar die behauptete sportliche Bedeutung gab es eigentlich nicht - für beide Teams ging es letztlich nur um das Prestige. Aber dass ich Teil der Mannschaft sein konnte, die an jenem Sonntag einen gewaltigen Gegner besiegte, darauf bin ich stolz. Von dieser Stelle auch einen Gruß an Herbert Scheidt und seine Mannen, die uns lange Jahre ein vortrefflicher Reisepartner waren. Ich denke gerne an die vielen netten Stunden zurück, die wir in geselliger Runde verbracht haben. Alles Gute, und immer Wasser unter dem Kiel!
Zum Abschluß noch ein bunter Blütenstrauß schöner Leistungen, vollbracht vom Stammpersonal. Frank Holzke und Florian Handke lassen eindrucksvoll die Rösser traben, Ralf Appel überzeugt durch verwirrendes Dribbling. Und Volkmar Dinstuhl spielt gegen einen großen Gegner eine seiner stärksten Partien.
Handke,Florian (2459) - Graf,Alexander (2601)
Bundesliga 0607 (14.5), 31.03.2007
Stellung nach 28...Kh8:
Soeben war der schwarze Monarch in die Ecke ausgewichen. Die Kräfteansammlung vor seiner Haustür stimmt nachdenklich, aber wie führt Weiß den Angriff weiter? Florian Handke glänzte stets durch Opfermut und vollen Einsatz, fast jede Partie wurde voll ausgespielt, Ramba - Zamba war stets willkommen. Das ließ ihn gelegentlich den Geschmack der Niederlage kosten, die bei ruhigerem Spiel vielleicht vermeidbar gewesen wäre. Aber wer fragt danach, wenn solche Angriffssiege gelingen? Nimmt Weiß in der Diagrammstellung kleinmütig auf b3, schaltet Schwarz mit ...Sbd7 einen weiteren Verteidiger ein und der Angriff flacht ab. Entschlossenheit tut also not. 29.f3! Keine absolue Offenbarung, aber angesichts des hängenden Läufers c2 trotzdem hübsch. Die Drohung Dame Hans vier ist so stark, dass Schwarz dringend etwas erfinden muss. 29...Sbd7? Das reicht nicht aus, aber der verwirrende Reichtum an taktischen Schlägen ist selbst für Graf zu viel, der außerdem mit Zeitproblemen zu kämpfen hatte. Das naive 29...bxc2? führt zu einem hübschen und undeckbaren Matt: 30.Dh4 h6 31.Sxg7! , aber was sonst? Der Springer ist ebenfalls tabu, die Zeit läuft davon... 30.Sxh7! Kxh7? 31.Dh4+ Raute 17! Allerdings weiß selbst der Allmächtige keinen guten Rat mehr, der Einschlag auf h7 ist schwer zu verdauen. 31...Kg
32.Sh6+! gxh6 33.gxh6+ Geschickt nutzt Florian die Springer als Dosenöffner und erspielt sich ein hoch verdientes Raute 6!, aber daraus wird leider nichts. Der Ausgang der Partie ist klar, aber das Matt hätte einen schönen Schlußpunkt gesetzt. 33...Lg7 Auf 33...Kh7 folgt schlicht 34.Dg5 34.Dg5 Zum Matt führte der sehr schwer zu sehende Zug 34.De7!!, wonach den schwarzen König in spätestens 5 Zügen sein Schicksal ereilt. Handkes Zug reicht natürlich auch. 34...Kf8 35.Dxg7+ Ke8 36.h7+
Eine neue Dame ist im Anmarsch, aber das Abenteuer ist noch nicht ganz beendet. Der schwarze König verkriecht sich am Damenflügel und muss erst wieder hervorgezerrt werden. Mit der Kraft der zwei Damen gelingt es aber. 36...Kd8 37.h8D+ Kc7 38.Dhh7 bxc2 39.Txc2 b3
Man könnte noch an diesem oder jenem Zug herumkritteln, aber lassen wir den Quatsch. 40.Txc5+ dxc5 41.Dxf7 Db5 42.d6+ Kb6 43.Dxd7 De2 44.Dc7+ Kb5 45.Dhd7+ Kc4 46.Da4+ Kc3 47.Dca5+ Kd3 48.De1 Dxf3+ 49.Kh2 c4 50.Dd2+ Kxe4 51.Tg4+ Dxg4 52.hxg4 Lb5 53.Da7 c3 54.Dh7
Am Ende erwischt es den Wanderkönig doch noch. Raute 1 ist nun wirklich des Guten zu viel - Graf bekannte sich geschlagen. 1-0
Holzke,Frank (2485) - Bromberger,Stefan (2491)
Bundesliga 0708 (4.4), 02.12.2007
Stellung nach 15.Dxg5:
Das fühlende Wesen würde auf "Ärger voraus" tippen, aber die Stellung ist, hätten Sie's gedacht, ausgeglichen. Woher ich das weiß? Bevor wir uns der Beantwortung dieser Frage zuwenden, prüfen wir zunächst einmal die Lage. Unmittelbar droht der Einstieg auf f6 Ungemach, auch Tb1-b3-g3 könnte lästig werden. Logisch sieht es aus, die Dame in die Verteidigung einzubinden, etwa mit Da5-d8. Strategisch einwandfrei, aber Stefan war eine taktische Finesse entgangen. 15...Da5? 15...h6! 16.Df4 Da5! war wohl der kritische Test. Schwarz stört den weißen Aufmarsch und kommt nun zu gewissem Gegenspiel, da Weiß e5 nicht so ohne weiteres hergeben darf. 17.Sf6+ geht zwar trotzdem, hat aber keine durchschlagende Wirkung mehr: 17...Sxf6 18.exf6 e5! 19.Dg3 g6 mit verteiltem Spiel. Persönlich hätte ich lieber Weiß, aber der Kampf hätte angedauert. Nach dem Textzug lässt Frank die Springer tanzen. 16.Sf6++- Und plötzlich ist es aus. 16...Kh8 Stefan hatte vielleicht übersehen, dass nach 16...Sxf6 hochnotpeinlich 17.Sf5! folgt. 17.Sxh7! Das kennen wir doch!? 17...Kxh7
18.Sxe6! Dxe5 [18...fxe6 19.Ld3+ ist das Ende - Dosenöffner in Aktion. Das geflügelte Wort von der feinen Springerführung, hier wird's Ereignis. Holzke kommt nun mit präzis - druckvollem Spiel zum Erfolg, wie es immer so schön in den sowjetischen Schachbüchern hieß. 19.Dh4+ Kg8 20.Sg5 Dc5+ 21.Kh1 Dxc2 Erzwungene Gier, aber die Linienöffnung führt nun schnell zum schwarzen Exitus. 22.Tbc1 Dg6
23.Sxf7! Sf6 24.Se5 Dh6 25.Dc4+ Kh8 26.Ld3! Setzt einen trockenen Schlußpunkt unter einen großartig geführten Angriff. Die mangelnde Entwicklung wurde Schwarz zum Verhängnis. 1-0
Gurevich,Mikhail (2634) - Appel,Ralf (2503)
Bundesliga 0203 (13.4), 15.03.2003
Stellung nach 31.Df3:
"Ausgleich" flötet der Rechner, aber was bitteschön ist mit b7? Und wo ist das Gegenspiel? Springer nach e5 und was weiter? Bei genauerer Betrachtung zeigen sich aber auch in der weißen Stellung gewisse Disharmonien: Der Königsflügel ist ein wenig weich, die Figuren am Damenflügel könnten woanders fehlen. Appels feiner Gegenplan zielt genau auf diese kleinen Schwächen ab. 31...Se5! 32.Dxb7 d5! Öffnet das Spiel und schneidet die weiße Dame ab. 33.cxd5? Das ist einfach zu happig - jetzt steigt Schwarz mit großer Wirkung ein, während die weißen Hölzer auf der b- Linie verhungern. Das begütigende 33.Da6 Db2 34.Da2 hätte zum Ausgleich und wahrscheinlich zum Remis geführt. 33...Db2 34.Tf2
34...Sf3+! Weiß ist erheblichen Nervereien ausgesetzt. Ich könnte mir vorstellen, dass Gurevich dieses Schach unterschätzt hat, das auf den zweiten Blick einige gallige Pointen zeigt. 35.Kg2 35.Kh1? exd5 gewinnt auf der Stelle für Schwarz, da auf h2 ein schönes Mattfekd blinkt: 36.Sxd5 Dxe2! Einmal mehr gewinnt das Zentrum gegen den Flügel, jaja! 35...Se1+ 36.Kg1 36.Kf1 exd5 war auch nicht besser. 36...exd5!-+ Um den mörderischen Druck abzuschütteln, muss Weiß Material geben. 37.Sxd5 Dd2 38.Sdc3
Noch die beste Verteidigung. 38...Lxc3 39.Sxc3 Dxc3 40.Tb3 Dd4 41.Db6 Sf3+ 42.Kg2 Dxb6 43.Txb6 Se1+ 44.Kf1 Sxd3 45.Te2 Irgendwann müsste das Megrmaterial sprechen, aber so ganz trivial ist es nicht. 45...Kg8 46.Tb5 Tb8 Weiß sollte jetzt tauschen, wonach Schwarz langsam aber sicher gewinnen sollte. 47.Td5?
läßt eine amüsante Wendung zu: 47...Txf4+! 48.Kg2 48.gxf4 Tb1+ 49.Kg2 Sxf4+ und der liebe Augustin ist nicht weit. 48...Sb4 49.Td7 Tff8 Das ist natürlich Quatsch, weil Weiß mit Turm eins e7 remisieren könnte. Wir können davon ausgehen, das der Turm nach f7 zog, worauf Gurevich die Waffen streckte. 0-1
Dinstuhl,Volkmar (2420) - Hansen,Curt (2633)
Bundesliga 0405 (9.6), 30.01.2005
Stellung nach 26.Kc2:
Mit feinem Positionsspiel hatte Volkmar dem Großmeister einen Bauern aus dem Kreuz geleiert. Der ist nun netto mehr, aber wie gewinnt man so etwas? 26...Td4 27.Te4! Der große Capablanca gewann in seinen Glanzjahren derartige Endspiele mit maschineller Präzision. Der Gewinn wäre etwa folgender: Turm auf die 4. Reihe (schon geschehen), nebst f2-f4 und Sd2-f3, gefolgt vom langsamen Vorrücken am Königsflügel. Weiß hätte dann alles unter Kontrolle, irgendwann würde der Durchbruch erfolgen. Was sich einleuchtend in den Gehörgang schmiegt, spielt sich freilich nicht so leicht. 27...Kd7?! Den Turmtausch zu erlauben, ist keine weise Entscheidung. Schwarz sollte sich zurückziehen und auf Capablanca warten. 28.b3 h5 29.f4 c5 30.Txd4+ Lxd4 31.Kd3 Ke6 32.Ke4+- g6 33.Sf3 Lc3 Schwarz ist zu qualvollem Abwarten verurteilt. Mit dem Turm wäre mehr Widerstand möglich gewesen. 34.h3 Lf6 35.g4 hxg4 36.hxg4 Lc
37.g5! KLassische Technik! Wie so oft ist der Freibauer nicht direkt zu verwerten, zwingt den Schwarzen aber zur Beobachtung. Derweil marschiert Weiß am Damenflügel ein. 37...Lb2 38.Sh4 Schneller ging es mit 38.Se5 , denn das Bauernendspiel ist glatt verloren: 38...Lxe5 39.fxe5 a6 40.a3 b5 41.cxb5 axb5 42.a4 c4 43.a5!; der sichere Textzug ist natürlich auch gut. 38...Kf7 39.Kd5 Lc1 40.f5 gxf5 41.Sxf5 Lxg5 42.Sd6+ Ke7 43.Kc6 Ld2
44.Sc8+ Kd8 45.Sxa7 La5 und bevor der Damenflügel völlig abgeräumt wird: 1-0
5. 16 Jahre Bundesliga
Und jetzt möchte ich mich verabschieden. War der Rundgang nun zu kurz oder zu lang? Möglicherweise beides. Nüchterne Bilanz oder Tränenvase? Die Bilanz macht zufrieden. Aus dem kleinen Fähnlein Unentwegter, dass damals in Viernheim den allerersten Kampf gewann, wurde eine schlagkräftige Truppe. Die Jahre flossen ruhig und gleichmäßig dahin, wir spielten so hochklassig wie möglich und kämpften und litten, wie es sich gehört. Einige Stationen der langen Reise haben wir besucht. Natürlich gäbe es noch viel mehr Anekdoten zu erzählen, noch viel mehr Partien zu zeigen...aber alles muss einmal ein Ende haben. Allen Beteiligten gerecht zu werden, war ein Ding der Unmöglichkeit, auch über die Partieauswahl liesse sich trefflich streiten. Man hätte persönlicher, sachlicher oder poltischer schreiben können. Aber mir ging es darum, dieser großartigen Truppe ein kleines Denkmal zu setzen. Ich werde diese Jahre nie vergessen.
Ganz zum Schluß noch ein Wort des Dankes an Sie, meine Leser. Aus vielen persönlichen Gesprächen weiß ich, dass meine Artikel durchaus Anklang fanden. Das war mir stets Lob und Ansporn genug., um immer wieder den Stift zur Hand zu nehmen.
Lassen wir die Tränenvase für heute im Schrank. Freuen wir uns über das was war, freuen wir uns auf das was kommt. Was bleibt, ist die Erinnerung an eine große Ära des Wattenscheider Schachs, an 16 Jahre Kampf und Krampf, Triumph und Niederlage, Spaß und große Kunst. An wahrhaftig goldene Schachzeiten.
Unter diesem Link finden sie alle Beiträge, die Timo Straeter auf der Webseite der Schachbundesliga veröffentlicht hat.
Timo, vielen Dank für deine kurzweiligen Beiträge!