Die Bayern mit Trauerflor?
Die Bauern auf dem Brett sind derzeit das geringste Problem der Münchner Bundesliga-Schachspieler. Sie zählen erst, wenn es ihre Großmeister an die 64 Felder geschafft haben. Vorher bereiten die Bauern aber Gerald Hertneck schon Kopfzerbrechen! „Die Anreise ist das Problem – das habe ich schon vor zwei Wochen befürchtet“, erzählt der Kapitän der Münchner Schachakademie (MSA) Zugzwang. Daher erwarb er wegen des drohenden Bahnstreiks der Lokführer weitsichtig Tickets für den Flixbus, um bis Samstag in Richtung Karlsruhe ins badische Ötigheim zu gelangen. Nun aber fürchtet Hertneck, dass Flixbus womöglich „durch einen Bauernstreik“ ausgebremst wird. Käme es so bis 14 Uhr am Samstag und die MSA-Bretter blieben unbesetzt, wäre es zumindest ein philosophisch angehauchter Verlust: „Die Bauern sind die Seele des Spiels“, lautet eine der berühmtesten Weisheiten des königlichen Spiels, die vom französischen Komponisten Philidor (1726-1795), seines Zeichens auch bester Schachspieler des 18. Jahrhunderts, stammt.
Mit dem Kommentieren von Keymer-Partien hat Angelika Valkova beim Schachfestival Biel Erfahrung gesammelt. Am Wochenende wird sie in Ötigheim voraussichtlich wieder Keymer kommentieren, womöglich auch interviewen. | Foto: Schachfestival Biel
Die Anreise sieht auch Jörg Wengler als unwägbares „Abenteuer“: Doch beim FC Bayern München steht zwar namentlich auch ein Bauer aktuell im Mittelpunkt, aber mit dem Tod von Franz Beckenbauer geht es nicht um Könige, sondern um noch mehr: den „Kaiser“. Ob die Schach-Abteilung mit Trauerflor in Ötigheim antritt, lässt der Schach-Abteilungsleiter offen. Beckenbauer hat in den 90er Jahren die Bayern-Schachspieler einst zwar genervt als „Klötzleschieber“ geschmäht, weil sie damals im Gegensatz zu den Kickern von Titel zu Titel eilten. Aber die „Galionsfigur“ habe als „Vereinspräsident“ alle Mitglieder und Abteilungen „groß unterstützt“, betont Wengler und ist der Libero-Legende nicht gram.
Was die sportlichen Aussichten in Ötigheim anlangt, hält er es mit dem legendären „schau’mer mal“ des „Kaisers“. Der Gastgeber sei am Samstag ein starker Aufsteiger. Und der Gegner am Sonntag (10 Uhr) gilt als „FC Bayern des Schachsports“: Damit ist über die OSG Baden-Baden alles gesagt. In den vergangenen 18 Jahren gönnte der Rekordmeister aus der Kurstadt nur einmal der Bundesliga-Konkurrenz den Titel! Doch mit 7:1 Punkten hat Baden-Baden schon unerwartet Federn gelassen, auch wenn es nur ein 4:4 gegen den Hamburger SK war. Die Bayern liegen mit 6:2 Zählern auf Rang fünf direkt hinter dem Champion. Aber auch wenn das Wochenende „sportlich für uns eine große Herausforderung wird“, liebäugelt Wengler mit einer weiteren Überraschung. Schließlich stellten seine Schützlinge der OSG Baden-Baden in der Corona-Saison 2019/2021 mit einem 4,5:3,5-Sieg ein Bein – und der „starke Gastgeber“ Ötigheim (6:2) liegt am Samstag mit seiner verstärkten Franzosen-Auswahl leistungsmäßig in den Regionen des FC Bayern.
Die SWR-Abendschau dreht im Telldorf
Die Telldörfler, wie sie wegen einer großen Volksschaubühne im Freien, genannt werden, wären auch mit „zwei Punkten zufrieden“, betont Marcus Wormuth. Der Klubobere, der das Bundesliga-Wunder in Ötigheim bei dem langjährigen Siebtligisten in die Wege leitete, freut sich darauf, dass nun die Schachspieler neben den Schauspielern das Dorf bundesweit berühmt machen. Sogar der Südwestrundfunk aus dem nur 20 Kilometer entfernten Baden-Baden reist am Wochenende an, um für die SWR-Nachrichtensendung „Abendschau“ (sonntags, ab 19.45 Uhr) im dritten Landesprogramm über Schach zwei Minuten lang zu berichten. Ansonsten hat der kleine wie rührige Schachclub fleißig für den großen Tag geübt. Bei der Vereinsblitzmeisterschaft im alten Jahr wurde die Live-Übertragung getestet, damit am Wochenende auch alles perfekt klappt. Die Digitalbretter leiht die OSG dem Reisepartner aus.
Wormuth hat auch für die Moderation mit Bedacht drei „Nicht-Großmeister“ an Land gezogen, um „all die vielen Laien anzusprechen“. So übernehmen Schach-Journalist Hartmut Metz aus dem benachbarten Muggensturm und Isabel Delemarre am Samstag die um 15 Minuten zeitlich versetzte Live-Kommentierung auf dem YouTube-Kanal des SC Ötigheim. Ganz unbeleckt sind die beiden schachlich allerdings auch nicht: Die bezaubernde Opernsängerin ist Internationale Frauen-Meisterin (WIM) und frühere Bundesligaspielerin. Der für die Rochade Kuppenheim spielende Metz ist FM und amtierender deutscher Ü50-Senioren-Meister. Am Sonntag Angelika Valkova mit Metz zum Einsatz. Die Ukrainerin ist nicht nur württembergische Frauenreferentin, sondern auch beliebte Schach-Streamerin. Im Schach-Mekka Biel führt die Verbandsligaspielerin immer die Interviews mit den Stars.
MSA-Großmeister Hertneck kann eigentlich doch entspannt die 300 Kilometer mit dem Flixbus angehen: Sollten die Bauern mit einem Streik verhindern, dass das MSA-Oktett innerhalb der Karenzzeit die weißen und schwarzen Bauern nach vorne stoßen kann, wäre es auch kein Drama: Der mit 3:5 Punkten passabel gestartete Aufsteiger dürfte gegen die Baden-Badener Weltauswahl am Samstagmittag ohnehin nichts erben. Die OSG um den deutschen Shooting-Star Vincent Keymer ist einfach zu übermächtig. Der neue Weltranglistenerste der Junioren und die Nummer zwölf der Männer ist beim „FC Bayern des Schachsports“ nur an Brett sechs gemeldet!
Dass Keymer generell sportliches Talent hat, bewies der 19-Jährige vergangenen Samstag im „Aktuellen Sportstudio“, als er seinen gelungenen Auftritt mit einem Treffer an der Torwand krönte und sogar zwei Handball-Nationalspieler hinter sich ließ. Vier Treffer bei sechs Schüssen sind für einen Schach-König dagegen utopisch – das schafft nur der „Kaiser“ oder andere Ballartisten wie Günter Netzer und Rudi Völler, die fünfmal einlochten. Und vom Weißbierglas herunter gelang dies sowieso nur Franz Beckenbauer…