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Igor Kovalenko: "Je tiefer du gräbst, desto höher die Chance zu überleben"

Eigentlich ist er Stammspieler, aber in der vergangenen Saison hat Igor Kovalenko für seinen SC VIernheim nur zwei Partien bestritten. In den Monaten davor hatte er "ewig nicht in einem Bett geschlafen", wie Viernheims Vorsitzender Stefan Martin unlängst im Gespräch mit schachbundesliga.de berichtete. Igor Kovalenko aus Kiew, Elo 2674, Nummer 65 der Welt, kämpft in diesen Monaten einen anderen Kampf als den am Brett, einen existenziellen.

Seit April 2022 dient der 34-jährige Großmeister als Soldat in der ukrainischen Armee. Unmittelbar nach dem russischen Überfall auf sein Heimatland hatte sich der angehende Priester der jüdisch-messianischen Gemeinde in Kiew als Freiwilliger gemeldet, um die Not von Zivilisten zu lindern und die kämpfende Truppe zu unterstützen. Wenige später wurde er Teil dieser Truppe. 

In einer Zeremonie in Kiew, um das jüdische Neujahr zu feiern, hat Präsident Wolodymyr Selenskyj Igor Kovalenko jetzt den "Orden für Tapferkeit“ 3. Grades verliehen. Kovalenko fand die Begegnung mit dem Staatsoberhaupt "aufregend", wie er auf Anfrage von chess.com sagte, findet aber, dass es Kandidaten gab, "die viel würdiger sind als ich - echte Terminatoren".

Nach der Auszeichnung blieben Kovalenko nur wenige Stunden in seiner einstigen Heimatstadt, dann ging es zurück an die Front. Trotzdem fand er die Zeit, schachbundesliga.de Eindrücke von seiner Aufgabe und seinen Lebensumständen an der Front zu vermitteln. Ein Interview mit Igor Kovalenko:

Igor Kovalenko mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Zelenskyj, der den großmeisterlichen Soldaten für seine Tapferkeit auszeichnete. | Foto: privat

Igor, Glückwunsch. Präsident Wolodymyr Selenskyj hat Dich mit dem „Orden für Tapferkeit" 3. Grades ausgezeichnet, verliehen für "individuellen Mut und Heldentum bei der Rettung von Menschen oder wertvollen Materials unter Gefährdung des eigenen Lebens".

Vielen Dank.

Seit April 2022 bist Du Soldat. Wo bist Du stationiert, was ist Deine Aufgabe?

Wir bekämpfen feindliche UAVs (Unmanned Aerial Vehicles, unbemannte Luftfahrzeuge) aller Art. Seit mehr als sechs Monaten decken wir auf einem Gebiet von etwa 500 Quadratkilometern verschiedene Positionen unserer Einheiten ab. Nur ein paar Mal im Frühjahr durften wir uns außerhalb der militärischen Stellungen erholen, waschen und sechs Stunden lang ausruhen. Seit Anfang Mai sind wir ununterbrochen im Wald in der Region Donezk. Wir müssen weitermachen, auch wenn der Feind uns findet. Egal was passiert, wir haben den Befehl, unseren Kampf gegen die UAVs fortzusetzen.

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Der Oblast Donezk. | via Wikipedia

Hat der Feind Euch je gefunden?

Es gab einen Fall. Wir bekämpften Lenkwaffen vom Typ Lancet, um unsere Panzer zu beschützen. Dann gerieten wir selbst unter Beschuss. Von einem dieser Angriffe war ich ziemlich betäubt, aber zum Glück nur leicht verwundet am Kopf. Obwohl Blut floss, musste ich die uns gestellte Aufgabe weiterführen. Medizinische Hilfe bekam ich erst, nachdem wir unsere Stellungen gerettet hatten. So läuft das bei uns. 

Wir geht es Dir jetzt?

Im Allgemeinen sehr gut. Ich fühle mich am rechten Platz – das gibt dem Leben und den Opfern, die wir bringen müssen, einen Sinn. Wir lachen und scherzen viel, dafür finden wir leicht Anlässe.

Wie sieht das tägliche Leben an der Front aus?

Es ist hart. Das Wichtigste ist, dass du gräbst – je tiefer, desto höher die Chance zu überleben. Wir sind oft wie Maulwürfe eingegraben. Um uns zu entdecken, musst du die metaphorische "Tür nach Narnia" finden. Sonst ist es schwierig zu bemerken, dass wir da sind, selbst wenn du direkt neben unserer Position stehst.

Wie kommst Du mit der ständigen Ungewissheit zurecht, was als Nächstes passiert? Damit, dass Dein Leben ständig in Gefahr ist?

Man gewöhnt sich an alles. Du lebst lebt von Tag zu Tag ohne den Gedanken daran, dass es bald zu Ende sein könnte.

Wie wirkt sich das Soldatsein auf Deine Einstellung zum Leben aus?

Im Kopf musst du aufhören, ein Zivilist zu sein, der so lebt, wie er es für sich eingerichtet hat. Stattdessen musst du ein Soldat werden, eine Zelle eines großen Organismus. Ich bereite mich darauf vor, noch ein paar Jahre in den Wäldern zu verbringen. Das normale Leben in einem Dorf oder in der Stadt ist kein Thema mehr für mich. Ich lebe jetzt im Wald mit den Tieren.

Wie haben die 14 Monate als Soldat den Schachprofi und Geistlichen Igor Kovalenko verändert? Welche Fähigkeiten hast Du erworben?

In der Armee habe ich gelernt, mit Axt, Spitzhacke und Schaufel umzugehen. Ich kann jetzt für warmes Wasser sorgen, ohne dass es aus dem Hahn kommt: Wir breiten Wasserflaschen auf Steinen aus, und wenn sie von der Sonne aufgeheizt sind, waschen wir uns. Von allen Veränderungen möchte ich die Tatsache hervorheben, dass sich meine Perspektive verändert hat. Streitigkeiten und die Sorge ums Großmeisterdasein, die mich vor dem Krieg und der Pandemie bewegt haben, wirken jetzt lächerlich auf mich. Diese geistige Entwicklung wird mich für den Rest meines Lebens prägen.

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"Wir breiten Wasserflaschen auf Steinen aus, und wenn sie von der Sonne aufgeheizt sind, waschen wir uns." | Foto: privat

Wie schätzt Du die allgemeine Situation ein? "Erschöpft, aber optimistisch" hören wir über den Zustand der ukrainischen Truppen, "ein harter Kampf um jeden Quadratkilometer besetzten Landes" über die militärische Lage.

Das trifft es. Wir müssen uns heute die heikle Lage nicht weniger bewusst machen als im vergangenen Jahr. Wir verstehen, dass diese „Partie“ nicht „remis“ enden kann. Auf beiden Seiten gibt es viele Verluste. Nach meinen subjektiven Schätzungen werden wir am Ende des Krieges eine Million Tote und Verstümmelte/Schwerverwundete haben – und das ist nur das Militär. Die Zahlen auf Seiten unserer Feinde werden noch erschreckender sein. Aber das größte Leid erfährt die Zivilbevölkerung mit hunderttausenden Toten und etwa zehn Millionen zerstörten Lebenswegen. Kein Geld, kein Hilfsprogramm wird das ändern können.

Wie können wir Dir und Deinen Kameraden helfen?

Wir haben eigentlich alles, was wir an Ausrüstung und Unterstützung brauchen. Nur unser Haupttransportfahrzeug macht uns Sorgen, es hat seine letzten Tage erreicht. Wir werden uns einen Pick-up organisieren müssen, damit wir die ersten Kilometer von der Kontaktlinie fahren können. Das ist im Grunde das Einzige, was wir im Moment brauchen. Alle anderen Vorbereitungen für den Winter treffen wir selbst – und empfinden das als ganz normal.

Trotz des Krieges spielst Du immer noch Schach, zum Beispiel Titled Tuesdays. Wie ist das überhaupt möglich?

Ich kann nicht für längere Zeit aufhören, Schach zu spielen. Es ist meine Brücke zu einem normalen Leben. Also mache ich mir einen sehr starken Tee, benutze eine spezielle Ausrüstung, um online zu sein, ohne dass mich jemand orten kann, und dann spiele ich. Das geht natürlich auf Kosten meines Schlafs. Ich habe mich bereits daran gewöhnt, weniger zu schlafen. Manchmal schlafe ich eine oder zwei Wochen lang in Intervallen von drei Stunden pro Tag. Dann, für ein paar Tage, schlafe ich zweimal täglich, danach geht es wieder zurück ins Hamsterrad. An der frischen Luft brauche ich weniger Schlaf.

Was bedeutet dir Schach in dieser Zeit?

Eine Ablenkung, aber nicht irgendeine. Ich spiele auch, um in Form zu bleiben. Nach dem Krieg möchte ich beweisen, dass ich noch in die Top 100 gehöre.

Was wirst du tun, wenn das alles vorbei ist?

Nach dem Krieg plane ich, mehrere Bücher zu schreiben. Mehr schreiben als Schach spielen. Vielleicht werde ich mich politisch und sozial engagieren.

"Wir haben jetzt eine Tür eingebaut, das hilft beim Schachspielen": eine Partie von Igor Kovalenko, gespielt in der Champions Chess Tour im Juni gegen die chinesische Nummer zwei Yu Yangyi. Im selben Turnier besiegte Kovalenko Vladimir Kramnik und unterlag Magnus Carlsen.

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